„Act and Thought“ von Mamaza im Rahmen von Performing Architecture / Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia 2016 | © Goethe-Institut, Foto: Federico Sutera
Migration ist im Tanz kein Phänomen der jüngsten Geschichte allein. Aus zahlreichen Gründen waren und sind Künstlerinnen und Künstler „fahrendes Volk“. Und diese professionelle Beweglichkeit ist in vielen Fällen weder freiwillig noch leichtfertig als Arbeitsgrundlage gewählt worden. Marktgesetze, Globalisierung oder gesellschaftliche Mechanismen der Unterdrückung, Zensur und Gewalt sind oftmals die Ursachen, wenn Künstlerinnen und Künstler den Ort ihrer Herkunft verlassen und die stilistische Weite der Welt suchen.
Einer der frühesten Migranten des Tanzes war Jean Georges Noverre (1727–1810). Mit seinem Innovationsprogramm zur Etablierung des Balletts als dramatische Bühnenkunst zog er rastlos durch ganz Europa, immer auf der Suche nach Mäzenen, Publikum, Tänzerinnen und Bühnenhäusern. Eine Generation später waren es vor allem die Startänzerinnen der Romantik wie Marie Taglioni, Fanny Elßler oder Fanny Cerrito, deren Wege überall dorthin führten, wo der Jubel des Publikums und die Gagen der Impresarios sie riefen – selbst in die jungen USA.
Historische Migration
Hier mag man vielleicht von einem europäischen Binnenphänomen sprechen, einem luxuriösen dazu. Heikler wird die Lage im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Animiert von den medialen Darstellungen des Kolonialismus und sicher auch beflügelt von der neuen Wissenschaft der Ethnologie, rückten plötzlich außereuropäische Bewegungsstile in den Blick. Japanische, indonesische, chinesische, chassidische oder indische Tänze wurden zu Attraktionen in Varietéprogrammen der europäischen Vergnügungsviertel. Mit ihnen kamen die Tanzgruppen, mehr oder weniger respektvoll bewundert. Allerdings waren ein Gutteil dieser Darbietungen frei erfunden, und zwar von Europäerinnen, die sich exotische Biografien zusammendichteten, um den Markt zu bedienen. Niemand geringeres als Margaretha Geertruida Zelle, besser bekannt unter ihrem indonesischen Pseudonym Mata Hari, musste jedoch solche
fake migration mit dem Leben bezahlen: Sie wurde der Spionage angeklagt und 1917 in Frankreich zum Tode verurteilt.
Politische Migration
Dieser Einzelfall war eher der Weltkriegspropaganda der Zeit geschuldet als einer Kritik am Exotismus. Doch kam es wenige Jahre später zu einem weit radikaleren Bruch der Migrationsbedingungen. 1933, das Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, markiert den Auslöser für politische Migration in großem Ausmaß, weil Künstlerinnen und Künstler in Deutschland nur noch unter engen Bedingungen arbeiten durften. Zwar unterlag der sogenannte „Moderne Tanz“ nicht den ästhetischen „Säuberungen“ wie die anderen Künste – es gab nach nationalsozialistischem Kulturverständnis keinen „entarteten Tanz“. Doch unterlagen die Tanzschaffenden einem ideologischen, rassistischen und sozialen Regime, das viele ins Exil zwang. Neuere Forschungen haben aufgezeigt, wie radikal dieser künstlerische Exodus aus Deutschland war, wie befruchtend er aber auch außerhalb Deutschlands gewirkt hat. Es klingt makaber: Der Moderne Tanz deutscher und österreichischer Prägung hat nach 1933 beziehungsweise 1938 viel mehr Strahlkraft und Breitenwirkung erzielt. Denn mit den Hunderten von vertriebenen Künstlerinnen und Künstlern zog die Kunstform um die ganze Welt. Gertrud Bodenwieser wirkte fortan in Australien, Renate Schottelius in Argentinien und ganz Lateinamerika, Gertrud Kraus in Palästina beziehungsweise Israel, Sigurd Leeder in Chile. Sie alle begründeten Traditionen der Moderne im Tanz außerhalb des europäischen Rahmens.
Moralische Migration
Tanz ist auch in der neueren und jüngsten Geschichte immer wieder moralisch umstritten gewesen. Je nachdem, welches religiöse, politische und soziale System gerade den Ton angibt, war Tanz entweder anrüchig, verboten, gefeiert oder staatlich verordnet. Je mehr monotheistisch-religiöse Prägung, desto weniger Tanz, so könnte dabei die Faustregel lauten. Mitte der Nullerjahre wurden die Produktionen
Letters from Tentland und
Return to Sender bejubelt. Die Choreografin Helena Waldmann hatte Frauen aus dem Iran inszeniert, die unter den Bedingungen der Islamischen Republik nicht öffentlich tanzen durften und daher in großen Zelten verborgen auftraten, ohne sich zu zeigen. Und die arabische Tanzplattform in Beirut hat in Zeiten des Krieges und des Fundamentalismus kaum noch zeitgenössischen Tanz aus den arabischen Kernländern im Programm, wohl aber eine Fülle von Künstlerinnen und Künstlern aus der – meist europäischen – Diaspora.
Ökonomische Migration
Man könnte nicht nur im Fall der arabischen Länder von einer künstlerischen Diaspora sprechen, denn sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischenstaatlich bewegt sich der zeitgenössische Tanz auf den Routen der Förderung, der Koproduktionen, der Residenzen und Workshops. Die europäischen Förderinstrumente – von den überstaatlichen Verbundprogrammen der Kommission bis zu den Zuschüssen von Gemeindeverwaltungen – erlauben längst keine Vollfinanzierung mehr. Daher können Projekte nur realisiert werden, wenn mehrere Institutionen sich zusammentun. Das bedeutet aber für die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, dass sie unentwegt von einem Probenort zum nächsten, von einem Gastspiel zum anderen, von einer Projektbesprechung zur folgenden reisen müssen. Im europäischen Rahmen funktioniert das einigermaßen glatt. Doch wehe, wenn Visa für Künstlerinnen und Künstler aus Drittstaaten besorgt werden müssen.