Politiken des Ich
Identität und Geschlecht in Argentinien

Alma Sanchez ist eine transsexuelle Schauspielerin
Alma Sanchez ist eine transsexuelle Schauspielerin | Foto: © Walter Sangroni /Agencia FS

In weniger als zwei Jahren wurden in Argentinien grundlegende Gesetze bezüglich der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verabschiedet. Wie wirkt sich die neue Gesetzgebung auf das Leben der Menschen aus?

„Der erste schwangere Mann Argentiniens bekam eine Tochter“, „Transfamilie: sie bekamen eine Tochter und danach eine Geschlechtsumwandlung“. Diese Schlagzeilen, die 2013 und 2014 in argentinischen Tageszeitungen erschienen sind, wären in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts noch undenkbar gewesen. 2010 jedoch wurde das Gesetz 26.618 verabschiedet, das den Código Civil – das argentinische Zivilgesetzbuch – modifiziert und allen Paaren die Ehe erlaubt, selbst Paaren gleichen Geschlechts.

Damit war Argentinien das erste lateinamerikanische Land, das Homosexuellen die standesamtliche Trauung erlaubte. Außerdem war der Weg für das Gesetz zur Geschlechtsidentität, das 2012 in Kraft trat, geebnet: eine im globalen Vergleich außergewöhnliche Regelung, die es jedem Menschen gestattet, sein eingetragenes Geschlecht auf unkomplizierte und kostenlose Weise berichtigen zu lassen, sofern es nicht mit der selbst wahrgenommenen Geschlechtsidentität übereinstimmt.

Vielfalt und Ungleichheit in Lateinamerika

Anfang 2015 wurden in Chile für Paare, egal welchen Geschlechts, eingetragene Partnerschaften erlaubt (Ley de Acuerdo de Unión Civil). Vier Monate später lehnte das peruanische Parlament ab, einen ähnlichen Gesetzesentwurf überhaupt zu debattieren. Während es in Paraguay keine Gesetze zum Schutz gegen Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Genderausdrucksformen gibt, hat Uruguay eine vorbehaltlose Gesetzgebung: Es ist das erste lateinamerikanische Land, das ein Gesetz zur Geschlechtsidentität verabschiedete (2009), und es zeichnet sich dadurch aus, dass es politische Maßnahmen zur Integration fördert.

Paraguay, Peru, Chile und Uruguay bilden ein Kontinuum der gesetzlichen Rahmenbedingungen in den lateinamerikanischen Staaten. Dennoch wird Vielfalt auf dem amerikanischen Kontinent nicht respektiert: In einer Pressemitteilung vom Dezember 2014 drückte die Comisión Interamericana de Derechos Humanos (Interamerikanische Kommission für Menschenrechte) ihre Besorgnis über die weitverbreitete Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intersexuelle Menschen aus. Die Organisation erinnert daran, dass die 35 Mitgliedsstaaten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sich bei mehreren Gelegenheiten verpflichtet haben, eine Politik zum Schutz des erwähnten Personenkreises zu fördern.

Biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität

Bei der Geburt wird der Mensch nach binären genetisch-biologischen Kriterien als männlich oder weiblich klassifiziert. Aber das Neugeborene wird zu einer Person, indem seine individuelle Identität durch vielfältige Instanzen – ethnische, klassenspezifische, familiäre etc. – gesellschaftlich vermittelt und konstruiert wird. Die Geschlechtsidentität ist eine soziale Kategorie, bei der Merkmale wie das Verhalten und die Kleidung mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen können oder nicht. Ein Mensch ist cisgender, wenn Geschlechtsidentität und das zugewiesene Geschlecht übereinstimmen; ein Mensch ist transgender, wenn seine Geschlechtsidentität und/oder geschlechtliche Ausdrucksformen nicht mit dem zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen; ein Mensch ist intersexuell, wenn sein sexueller Körper nicht in die Normen passt, die männlich oder weiblich definieren.

Als im Juli 2007 die Zwillinge geboren wurden, nannten Gabriela Mansilla und ihr Mann (Cisfrau und Cismann) den einen Federico und den anderen Manuel. Der erste schlief nachts ruhig und spielte tagsüber ohne Probleme, aber Manuel weinte, wenn er nicht Die Schöne und das Biest sehen oder ein T-Shirt seiner Mutter anziehen durfte, und er schlief schlecht und wenig. Bis Manuel mit zwanzig Monaten zu sprechen begann und seiner Mutter sagte: „Ich Mädchen, ich Prinzessin“. Und mit vier Jahren, als Gabriela ihn drängte, ihr T-Shirt auszuziehen, sagte er: „Ich bin ein Mädchen und ich heiße Luana.“ Am Ende bekam das Mädchen am 26. September 2013 einen neuen Ausweis, in dem sein selbst gewähltes Geschlecht (weiblich) und sein selbst gewählter Name (Luana) aufgeführt werden. Die Geschichte erzählt Gabriela Mansilla in ihrem Buch Yo nena, yo princesa (Ich Mädchen, ich Prinzessin).

Weltweit zum allerersten Mal erkannte ein Staat die Geschlechtsidentität eines Transmädchens auf Bitten und im Einverständnis mit der Minderjährigen an. „Das Gesetz ist zukunftsweisend“, sagt María Alejandra Serantes über das Geschlechtsidentitätsgesetz. „Kinder drücken ihre selbst wahrgenommene Geschlechtsidentität sehr früh aus: Die meisten Menschen aus der Trans-Community erzählen, dass sie sich bereits im Alter von vier oder fünf Jahren mit einer anderen als der bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtsidentität wahrgenommen haben“, erklärt die Anwältin, die bis Oktober 2014 Rechtsberaterin beim argentinischen staatlichen Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) war.

Menschen

„Auch wenn man mit klar definierten oder, wie im Fall von intersexuellen Menschen, nicht klar definierten Genitalien geboren wird, kann man nicht behaupten, dass es nur zwei Kategorien gäbe, denn gesellschaftlich sind die Unterschiede nicht starr. Ideal wäre es, wenn man nicht in ‚männlich/weiblich’ einteilen würde, sondern nur ‚Menschen’ hätte“, überlegt Serantes. Auch die Erklärung des Dritten Internationalen Intersex Forums von 2013 steht für Serantes Worte und fordert: „Alle Erwachsenen und dazu fähigen Minderjährigen sollten zwischen männlich (m), weiblich (w), einer nicht-binären oder einer multiplen Option wählen dürfen. Künftig sollten das biologische oder soziale Geschlecht, genau wie Rasse oder Religion, auf keinen Geburtsurkunden oder Ausweisdokumenten mehr als Kategorie auftauchen.“

Obwohl das argentinische Gesetz die Geschlechtsidentität als „inneres und individuelles Erleben des Geschlechts“ versteht, „so wie jeder Mensch es empfindet“, will sich das medizinische Wissen in den freien Willen einmischen. Serantes erzählt den Fall eines „jungen Transmannes, der eine Geschlechtsangleichungsoperation durchführen lassen möchte, jedoch keine Phalloplastik wünscht, sondern allein die Entfernung von Uterus und Eierstöcken. Dies wird mit der Begründung abgelehnt, dass die Bioethik die operative Entfernung eines gesunden Organs verbiete und gerade diese Operation außerdem die irreparable Konsequenz der Unfruchtbarkeit mit sich brächte. Die Antwort auf ein derartiges Argument ist das Gesetz zur Geschlechtsidentität, das lediglich die informierte Einwilligung der betroffenen Person verlangt. Die ärztliche Meinung ist unwichtig. Man muss die betroffene Person nur darüber aufklären, dass Unfruchtbarkeit eine der Konsequenzen des Eingriffs ist, und wenn sie trotzdem einverstanden ist, unterschreibt sie. Die Anfrage war einfach: dieser Mensch wollte eine Angleichung, eine Veränderung seiner Genitalien, aber er wollte keinen Penis“. Die Menschenrechtsexpertin schließt daraus folgendes: „Die Position dieses Transmannes zeigt, wie einzigartig und subjektiv das körperliche Erleben in Bezug auf das Geschlecht ist, und es zeigt auch, wie unglaublich persönlich und intim die Rechte sind, die durch dieses Gesetz geschützt werden.“

Welche Auswirkungen haben diese Gesetze auf die Institution der Familie? Die Widerstände sind vielfältig, denn man muss sowohl wissenschaftliche als auch allgemein verbreitete Vorurteile ausräumen. Die kleine Luana wurde mitten im Prozess der Umwandlung/Affirmation ihrer Identität von ihrem Vater verlassen: er verließ die Familie und brach den Kontakt ab. Familien, die nicht den Normen entsprechen, werden im Laufe der Zeit jedoch üblicher werden: Das argentinische Gesetz über die Gleichstellung in der Ehe erlaubt homosexuellen oder Transgender-Eltern die Adoption.