Grußwort

GoetheFEST 2024

Liebe Filmschaffende und Filmbegeisterte,

wir haben die Ehre, Ihnen sieben Filme zu präsentieren, die wahre oder fiktive Lebensgeschichten erzählen. Es sind ausnahmslos serbische Prämieren, die ausschließlich beim diesjährigen GoetheFEST zu sehen sind.

Das Motto der aktuellen GoetheFEST-Ausgabe lautet „Hoffungsvoll orientierungslos“ und stellt unter anderem die Frage: „Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit?“. Dieses Motto lädt uns dazu ein, über den Geist unserer Zeit nachzudenken und unsere Beziehung zur Realität zu hinterfragen. Dabei bietet jeder Film eine authentische Perspektive und erzählt eine Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ hat der berühmte österreichisch-amerikanische Psychologe und Linguist Paul Watzlawick bereits 1976 gezeigt, dass all das, was wir für unsere Realität halten, keine objektiven Tatsachen sind, sondern zum großen Teil von Kommunikationsprozessen, von Darstellungsarten und von sozialen Konstruktionen abhängt. Fünfzig Jahre später sehen wir uns wieder mit der Frage konfrontiert: Was ist Realität?, Warum glauben wir, dass das Reale real ist?, Wie überzeugen wir die anderen davon, dass etwas real ist?, Können wir uns sicher sein, dass das, was wir für wahr halten, wirklich stimmt? Diese und ähnliche Fragen scheinen heute aktueller denn je zu sein und die Filme, die Sie beim diesjährigen GoetheFEST sehen können, stellen sie auf eine neue Art und Weise, genauso wie die Frage: Wie viel von dem, was in uns steckt, tatsächlich auch von uns kommt?

Das GoetheFEST ist ein Festival, das sich auf das Publikum fokussiert, mit dem Wunsch, Sie Jahr für Jahr mit guten Filmen fürs Kino neu zu begeistern. Wir möchten Ihnen ein Gemeinschaftserlebnis in Kinosälen bieten, wo Sie miteinander Emotionen teilen und sich über diesen Austausch freuen können – und zwar ganz egal ob es sich dabei um einen inneren Austausch oder um einen Austausch mit Ihren Mitmenschen handelt. Angesichts der Heterogenität und der Vielseitigkeit unseres Publikums spielt dabei auch der „Anti-Bubble“-Gedanke eine wichtige Rolle. Wir laden Sie dazu ein, gemeinsam zu erkunden, inwieweit das zeitgenössische deutsche Kino tatsächlich die Wirklichkeit widerspiegelt, in der wir leben.



Das Festival wird vom epischen Drama „15 Jahre“ von Chris Kraus eröffnet, das eine kraftvolle und emotionale Geschichte erzählt. Eine ehemalige Pianistin wird mit ihrer gewalttätigen Vergangenheit konfrontiert, während der Film mit Elementen eines Rachethrillers und eines tragischen Figurenporträts balanciert. Mit Hannah Herzsprung in der Hauptrolle wird uns hier eine Figur vorgestellt, in deren Inneren Manie und Depression miteinander kämpfen. Mit ihrer außergewöhnlichen schauspielerischen Leistung verleiht Hannah Herzsprung der Geschichte viel Energie und eine besondere Tiefe. Der Film erforscht universelle Themen wie Rache, Gnade und die Bereitschaft, das Unvermeidliche zu akzeptieren.

Zum Abschluss des Festivals zeigen wir Ihnen den Film „Im toten Winkel“, der renommierten deutsch-kurdischen Drehbuchautorin und Regisseurin Ayşe Polat. Dieses sensible, poetische Drama über transgenerationale Traumata ist eingebettet in einen spannenden politischen Mystery-Thriller mit Elementen des Sozialdramas; es enthält viele „Found-Footage“-Elemente und ist von Metareflexion über die Medien durchwoben. In drei Kapitel unterteilt und in verschiedenen Medienformaten gedreht, erzeugt der Film eine zunehmend spannungsgeladene Atmosphäre, die Sie mit jeder Minute immer tiefer in ein komplexes Netz aus Verschwörung und Paranoia hineinzieht. „Im toten Winkel“ thematisiert Fragen wie Videoüberwachung und Kontrolle, vermisste Personen in der Türkei und Traumata in der türkischen Gesellschaft.

Birgit Möllers Film „Franky Five Star“ beeindruckt mit Kameraführung und mit zeitlosen Liedern, die zusammen mit Kostümen und mit Bühnenbild perfekt in seine verträumte und leicht experimentelle Ästhetik passen. Neben Lena Urzendowsky, welche die innere Vielfältigkeit des Charakters ihrer Figur großartig darstellt, ist die gesamte Besetzung beeindruckend.

„Jenseits der blauen Grenze“ von Sarah Neumann ist ein weiterer Film mit Lena Urzendowsky in der Hauptrolle. Er erzählt die Geschichte drei junger Protagonist*innen, die im Schatten des DDR-Regimes aufwachsen. Ihr Fluchtversuch über das offene Meer behandelt das heute besonders aktuelle Flucht-Thema und erinnert daran, dass es in der Geschichte solche Momente der Flucht in die Freiheit immer wieder gegeben hat. Der Film erforscht innere Kämpfe und Sehnsüchte nach Anerkennung sowie die Parallelen und Gegensätze zwischen jungen Menschen damals und heute, die mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Mit Elementen von Hoffnung und Angst, mit Lachen und mit Sorgen bietet dieser Film uns eine tief emotionale Reise durch komplexe Vergangenheits-Realitäten und lädt die Zuschauenden dazu ein, sich mit den eigenen Geschichten auseinanderzusetzen.

Annika Mätzkes „Jonja“ ist ein wunderbarer, humaner Film, der sehr erfolgreich soziale Relevanz und Unterhaltung miteinander verbindet. Es ist ein Film, der es wagt, auf eine observierende und langsame Art und Weise zu erzählen, und dabei sehr detailliert erforscht, was uns eigentlich in unserem Inneren bewegt.

Für diejenigen, die außergewöhnlicher Filme lieben, gibt es beim GoetheFEST in diesem Jahr eine besondere Empfehlung. Die österreichisch-deutsche Koproduktion „Des Teufels Bad“ des Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala ist der österreichische Kandidat im Rennen um den Auslands-Oscar 2025. Es ist eine düstere Kritik des religiösen Dogmatismus, eine ergreifende und unheimliche Rekonstruktion der Stimmen aus der Vergangenheit, die seinerzeit ungehört geblieben sind, und eine aufregende metaphysische Erforschung der Fesseln, die etliche Epochen überdauert haben und bis heute in unserer Gesellschaft nachwirken. Es ist ein historischer Film, der im düsteren 18. Jahrhundert im ländlichen Raum Österreichs spielt. In analoger 35-mm-Technik gedreht, transportiert dieser die Atmosphäre der niederländischen Malerei und offenbart viele Parallelen zur heutigen Zeit.

„Aus meiner Haut“ ist ein faszinierender und einzigartiger Film, der Fragen der Identität, Liebe und Körperlichkeit nachgeht. Der Regisseur Alex Schaad führt uns durch ein faszinierendes Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir unsere Körper mit den anderen tauschen könnten? „Aus meiner Haut“ stellt uns mehrere Figuren vor, die sich nicht nur mit Identitätswechsel, sondern auch mit Geschlechtsumwandlung und mit fluktuierenden sexuellen Präferenzen auseinandersetzen. Mithilfe von minimalistischen visuellen Effekten und von zutiefst emotionalen schauspielerischen Leistungen stellt der Film die Frage nach den Grenzen dessen, was uns zu dem macht, was wir sind. Es ist ein Film, der Sie keinesfalls unberührt lassen wird; vielmehr sind wir uns sicher, dass er Sie dazu anregen wird, Ihre eigenen Grenzen und Wahrnehmungen zu hinterfragen.

Hoffnungsvoll orientierungslos – genießen Sie die Filme, hinterfragen Sie alles: sich selbst, die Anderen und die Realität, und glauben Sie an die Macht der Kunst.
 
Filmauswahl Sunčica Šido
Programmkoordinatorin
im Goethe-Institut Belgrad

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