Im Gespräch mit ...
Olga Grjasnowa
Die deutsche Schriftstellerin Olga Grjasnowa stellte in Prag ihren neuen Roman vor, der vom Krieg in Syrien handelt. Wir haben aber auch auf ihr in tschechischer Sprache herausgegebenes Buch „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ zurückgeblickt. Dabei sind wir auf das aktuelle Geschehen in Deutschland beziehungsweise in Europa zu sprechen gekommen, wo „Freiheit“ vielleicht ein problematischerer Begriff ist, als es auf den ersten Blick scheint.
Von Marie Voslářová, iLiteratura.cz
Von Zeit zu Zeit passiert es, dass ein junger Autor sein erstes Buch veröffentlicht und darauf so starke und positive Reaktionen erhält, dass man meinen könnte, die Gesellschaft habe regelrecht darauf gewartet; als ob das Thema schon in der Luft hing und es dann endlich mit einem Mal von jemandem aufgegriffen wird. Lässt sich das auch über Ihren ersten Roman, „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, sagen?
In Deutschland befand man sich zu der Zeit, in der der Roman entstanden ist, in einer besonderen Situation – Thilo Sarrazin hatte gerade sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) veröffentlicht und damit die öffentliche Debatte verändert. Sarrazin konstatiert im Text, dass es verschiedene Rassen gäbe und diese unterschiedliche Gene hätten, und dass einige Migranten eine höheren Wert hätten als andere. Das ist nichts Neues in deutschen Diskurs, allerdings war es das erste Mal, dass es so deutlich wieder ausgesprochen wurde. Das Buch avancierte sich auch sehr schnell zu einem Beststeller. Das war die Stimmung, in der ich an meinem Roman arbeitete.
Die heutige Situation nach der letzten Migrantenwelle, als die AfD in einigen Bundesländern sogar 20 Prozent erreicht hat, ist bereits eine völlig andere. Heute würde ich den Roman wohl anders schreiben müssen und auch die Reaktionen würden wohl anders sein. „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ ist ein Buch, das fest in seiner Zeit verankert ist, aber ich hoffe, dass es auch darüber hinaus angenommen wird.
Was würden Sie heute anders schreiben?
Heute wäre ich wohl noch radikaler. Auch wenn ich das nicht mit Bestimmtheit sagen kann. Auf Deutsch ist das Buch glaube ich vor fünf Jahren erschienen, geschrieben habe ich es vor sieben Jahren. Aber in der Zwischenzeit habe ich zwei Kinder bekommen und es fühlt sich so an, als ob ich zwanzig Jahre gealtert wäre.
Wenn man Ihre Bücher liest, bekommt man das Gefühl, dass es sich bei Begriffen wie Identität, Heimat, Herkunft, Verwurzelung und ähnlichen in der heutigen, globalisierten Welt um leere Konzepte handelt, dass das heute eigentlich Anachronismen sind. Wie nehmen Sie dieses Thema wahr?
In Deutschland findet jetzt eine unglaubliche Diskussion zum Begriff „Heimat“ statt, es gibt sogar ein „Heimatministerium“, was wirklich grauenhaft ist. Das Wort bedeutet im Deutschen gar nichts Konkretes, es ist ein recht unkonkreter Begriff, der üblicherweise irgendein nicht gerade großes Gebiet bezeichnet, zum Beispiel ein Stadtviertel, in dem jemand zur Schule gegangen ist, ein bestimmtes Dorf oder einen See, an den man schöne Erinnerungen hat. Der Großteil der Deutschen verbindet „Heimat“ mit jenen Erinnerungen und mit einem gewissen Raum, der sowohl zeitlich als auch örtlich begrenzt ist.
Sobald der Begriff jedoch in politischen Diskussionen verwendet wird, wird er zu einer gefährlichen Sache: Dort ist „Heimat“ immer etwas, was man vor Fremden schützen muss. Welche „Heimat“ damit gemeint ist – das ist mir bis heute nicht klar: Deutschland ist sehr regional geprägt und wenn von der deutschen Kultur gesprochen wird, stellt man sich die Frage, was das genau heißt. Zum Beispiel in Hamburg und in Berlin unterscheidet sich die dort verortete Kultur deutlich. Ich selbst bin in Hessen ein Teil der deutschen Gesellschaft geworden, Deutschland ist für mich also Frankfurt und danach Berlin. Und vielleicht noch Hamburg, die Stadt mag ich auch gern.
Aber was beispielsweise Bayern betrifft, kann ich sagen, dass ich mich in Prag eher zu Hause fühle als dort. Den bayerischen Dialekt verstehe ich nicht und die bayrische Kultur und Mentalität auch nicht wirklich. Und jetzt leitet ein Bayer das Heimatministerium – was heißt das nun, sollten sich alle Deutschen an Bayern anpassen? In Trachten herumlaufen, sich mit „Grüß Gott“ begrüßen und schon morgens Weißwürste und ein Liter Bier in sich hineinkippen? Natürlich sind dies Klischees, aber Heimat ist das größte Klischee von allen.
In Deutschland leitet man Identität immer von der Herkunft ab und das ist ein Problem.
Also geht es um die Frage, wer eigentlich diese „richtigen Deutschen“ sind?
Genau. Man meint immer noch „deutsches Blut“. Doch selbst dann: Welche Deutschen sind es denn nun? Bayern? Und was haben die mit Hamburgern oder Hessen gemeinsam? Das sind verschiedene Welten. Die ostdeutschen Bundesländer sind auch wieder anders als die westdeutschen. Und was die Herkunft betrifft: Für meine Identität spielt die Tatsache, dass ich in Aserbaidschan geboren wurde keine Rolle. Im normalen Alltag koche ich höchstens zwei Mal pro Jahr irgendein traditionelles Gericht und das ist auch schon alles. Ich spreche Russisch, aber das ist wieder eine andere Sache, ein anderes kulturelles Erbe.
Aber man kann wirklich nicht sagen, dass ich tagelang umherlaufen würde und nur daran denken würde, dass ich aus Aserbaidschan komme. Meine Identität wird gegenwärtig zu 80 Prozent von der Tatsache beeinflusst, dass ich Mutter von Kleinkindern bin. Ich mache mir eher Gedanken darüber, dass in Berlin Neukölln, wo ich momentan wohne, die Fahrstühle in der U-Bahn oft nicht funktionieren und wie ich so mit dem Kinderwagen dorthin komme und wo die am nächsten gelegene, leicht zugängliche Haltestelle ist oder auf welchen Spielplatz gerade Schatten sein könnte. Darüber denke ich nach, und nicht über irgendwelche aserbaidschanischen Wurzeln, die ich habe. Identität ist etwas sehr Flexibles und schwer Greifbares.
Kann man das in gewisser Weise als Generationenkonflikt betrachten?
Nein, es hat nicht allzu viel mit Generationen zu tun, als mit Politikern, die die nächsten Wahlen gewinnen möchten und Menschen, die auf diese Masche reinfallen.
Also nicht der AfD?
Bei der AfD weiß man ungefähr, woher der Wind weht, aber die CSU bemüht sich verzweifelt, noch radikaler zu sein, und ehrlich gesagt gelingt ihnen das auch ganz gut. Für mich ist sie im Moment furchteinflößender.
Gern würde ich auf Ihren ersten Roman zurückkommen, den bisher einzigen, der auf Tschechisch erschienen ist – „Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Was haben Sie mit der Hauptfigur Mascha gemeinsam?
Mascha bin natürlich nicht ich, auch wenn das öfter mal verwechselt wird. Eine Erzählung in der ersten Person, besonders wenn die Autorin eine Frau ist, wird immer autobiografisch ausgelegt. Ich habe einige Jahre an dem Buch gearbeitet und ich muss sagen, dass ich am Ende wirklich froh war, keine weitere Verbindung mehr zu Mascha haben zu müssen.
Also könnte man sagen, dass sich die Hauptfigur anders entwickelt hat, als Sie es sich zu Beginn vorgestellt haben?
Ja, zu Beginn hatte ich von Mascha eine recht genaue Vorstellung, aber sie hat sich dann ganz anders entwickelt. Und das vor allem durch ihre Beziehung zu anderen Charakteren, zum Beispiel zu Sami.
Entstand diese erschütternde Passage im Buch, als Sie Maschas Aufenthalt in Israel schildern, als Reaktion auf eine Reise von Ihnen in das Land? Oder im Gegenteil – haben Sie sich dazu entschieden, einen Teil des Buchs in Israel spielen zu lassen und aus dem Grund sind Sie dann für einige Zeit dorthin gefahren?
Beides ist richtig. Anfangs dachte ich, dass der zweite Teil des Buchs in Russland spielen wird, nur dass das überhaupt nicht funktioniert hat. Und zu dem Zeitpunkt habe ich gerade meine Cousine in Israel besucht. Und weil mich Israel sehr angesprochen hat, kam mir die Idee, meinen Plan zu ändern und die Fortsetzung dorthin zu verlagern, worauf ich noch einmal für ein halbes Jahr nach Israel gegangen bin, um das Buch dort zu beenden.
Übrigens habe ich nichts Genaueres erfahren können zu Ihrem Schaffen als Dramatikerin, obwohl der Titel Ihres Stücks „Mitfühlende Deutsche“ interessant klingt.
Weil es keines gibt (lacht). Das erwähnte Stück habe ich nicht zu Ende geschrieben. Es handelte sich dabei um eine Zusammenarbeit zwischen einem Theater und mir, aber diese verlief so furchtbar, dass ich von der Vereinbarung zurückgetreten bin und das Stück in den Papierkorb geworfen habe. Aber vor kurzem bin ich in das Projekt „Stimmen einer Stadt“ des Schauspiels Frankfurt eingestiegen und arbeite an der Dramatisierung meines dritten Romans.
Dieser dritte Roman mit dem Titel „Gott ist nicht schüchtern“ erzählt vom aktuellen Geschehen in Syrien. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Durch Zufall. Eigentlich dachte ich, mein nächstes Buch der Gastronomie und Restaurants zu widmen, ich bin nämlich besessen vom Kochen und Kochbüchern. Aber dann habe ich meinen Mann getroffen. Der kommt aus Syrien und hatte zu Beginn gar nicht vor, in Deutschland zu bleiben, aber zufällig haben wir uns kennengelernt und er ist wegen mir geblieben. Und so habe ich auch die grundlegenden Dinge über Syrien erfahren, ich habe begonnen zu lesen, mich mit Leuten zu unterhalten und mich damit zu beschäftigen, was dort eigentlich passiert ist und gerade geschieht. Und Schreiben ist für mich eigentlich der einzige Weg, systematisch über etwas nachzudenken. Deswegen habe ich mit aus Gewohnheit Handlungen ausgedacht und auf einmal hatte ich ein halbes Buch vor mir, womit ich gar nicht gerechnet hatte. Danach habe ich selbstverständlich noch viel recherchiert, aber so hat das angefangen.
Ist das der erste auf Deutsch geschriebene Roman über das aktuelle Geschehen in Syrien?
Einer der ersten, ja.
Wie haben Syrer darauf reagiert?
Die Syrer, denen ich begegnet bin, haben sehr positiv reagiert. Sie schätzten es, dass dem Buch eine gründliche Recherchearbeit zu Grunde liegt. Was Rezensionen und das Medienecho angeht – das erschien sowohl positiv als auch kritisch.
Wird der Roman übersetzt?
Ich glaube, er wird bisher in ungefähr sieben Sprachen veröffentlicht werden. Ins Tschechische wurde er bisher noch nicht übersetzt, auch wenn ich mir das wünschen würde.
Wie ist der Titel zu verstehen?
„Gott ist nicht schüchtern“ ist Zitat aus dem Koran, das besagt, dass Gott nicht zögert, seine Feinde zu bestrafen. Das ist eine sehr alte Auffassung von Gott. Und mir geht es darum, dass sich Baschar al-Assad selbst als Gottheit inszeniert: In Syrien sieht man ständig und überall seine Bilder. Während man über Stalin sagt, dass er religiöse Ikonen durch sein eigenes Gesicht ersetzt hat, hängen in Syrien wiederum Fotografien von Baschar, seinem Vater, den Kindern, vom Bruder, überall stehen Statuen und absolut alles ist nach ihnen benannt. Und wenn jemand gefoltert wird, muss er am Ende sagen: Baschar al-Assad ist unser Gott. Sein Vater, Hafiz al-Assad hat bereits selbst über Syrien geherrscht und vorher sich in der UdSSR ausbilden lassen – von dort aus hat er den stalinistischen Führerkult nach Syrien gebracht. Stalin war ein ehemaliger Priester-Schüler und hat damals die Ikone mit seinen eigenen Porträt ersetzt.
Als Bashar al-Assad begonnen hat zu regieren, hat man ihm zudem alles Gute zugeschrieben, dass er nicht waghalsig handeln würde und dass von einem zaghaften Diktator nichts Böses zu erwarten wäre.
Ihren zweiten Roman, „Die juristische Unschärfe einer Ehe“, haben wir bisher noch nicht erwähnt. Können Sie ihn uns vorstellen?
In diesem Roman geht hauptsächlich um Freiheit für andere und die um die Frage, ob die Freiheit wirklich solch ein grundlegender Wert ist, wie behauptet wird. Im Roman stellt sich die Frage, wer zu dieser Freiheit eigentlich Zugang hat. Die Protagonisten sind das Ehepaar Leyla und Altay, sie ist lesbisch, er schwul, beide kommen aus Aserbaidschan und haben sich in Moskau kennengelernt. Sie beschließen zu heiraten, damit sie Ruhe vor ihren Familien und der Gesellschaft haben. Danach ziehen beide zusammen nach Berlin und zu ihrer großen Überraschung funktioniert ihre Ehe ganz gut. Sie haben einen gemeinsamen Haushalt und stehen sich wirklich nahe. Leyla verliebt sich schließlich in eine andere Frau, was allerdings Altay immer weniger und weniger behagt. Er wird sich darüber bewusst, dass er seine Ehefrau zurückhaben möchte. Selbst – und wahrscheinlich vor allem – da sie keine romantische Beziehung führen. Es bleibt die Frage, was der Begriff Beziehung eigentlich bedeutet und inwieweit man Anspruch auf einen anderen Menschen erheben kann.
Sie interessiert also nicht nur das Infragestellen von Begriffen wie Herkunft, Identität oder Nation, sondern auch eine Neubewertung der traditionellen, nennen wir es Art und Weise der Beziehungs- und Familienorganisation?
Ja, es geht mir um die verschiedenen Möglichkeiten, wie man sich als Familie organisiert, darum, was eine Familie überhaupt ist. Wie man sein Leben am liebsten gestalten möchte. Zum Beispiel gab es in der Zeit, in der das Buch herausgegeben wurde, in Deutschland noch nicht für alle die Möglichkeit, eine Ehe zu schließen.
Dafür gibt es in Deutschland die gemeinsame Versteuerung von Ehepaaren, verheiratete Paare sind also aus ökonomischer Sicht stark im Vorteil. Alleinerziehende werden dagegen aus steuerlicher Sicht extrem benachteiligt. Als Alleinerziehende zahlt man die gleichen Steuern wie jemand, der Single ist.
Andererseits hätte ich zum Beispiel nicht in Deutschland heiraten können, weil mein Mann einen syrischen Pass hat und das einen so großen bürokratischen Aufwand mit sich gebracht hätte, dass das eigentlich gar nicht machbar ist. Wir ließen uns in Dänemark trauen.
Lassen diese und ähnliche Absurditäten Sie nicht darüber nachdenken, Grenzen vollständig abzubauen oder zum Beispiel die Ehe abzuschaffen?
Die Ehe an sich halte ich nicht für ein schlechtes Konzept, da ein Mensch für einen anderen eine gewisse Verantwortung übernimmt – auch eine juristische und finanzielle, was wichtig ist. In Hinblick auf die Kinderbetreuung könnte man in Deutschland noch viel verbessern, zum Beispiel das System der Unterhaltszahlungen.
Was Grenzen betrifft, ist das schwierig. Tatsache ist, dass Europäer und Nordamerikaner Reisefreiheit genießen, sie können reisen, wohin sie wollen, außer nach Nordkorea. Für den Rest der Welt ist die Situation allerdings eine andere. Ich glaube, dass es irgendeine Art von Regelung geben muss. Nur ist die gegenwärtige Politik gegenüber Flüchtlingen absolut inhuman.
In Europa sehe ich zudem das Problem, dass wir stolz darauf sind, alle Adelsprivilegien abgeschafft zu haben – dass wir niemanden aufgrund seiner familiären Herkunft anders behandeln müssen. Nur dass dieses Prinzip jetzt von Pässen abgelöst wurde. Ein deutscher Pass ist aber etwas ganz anderes als ein aserbaidschanischer oder ein russischer.
Also ist Freiheit nicht dasselbe für alle.
Genau. Am meisten sprechen diejenigen über Freiheit, die am meisten davon haben. Mit einem deutschen Pass kann man selbstverständlich alles Mögliche machen. Beispielsweise wird im Fall der sogenannten Expats mit zweierlei Maß gemessen wird, die zuweilen kein Interesse daran haben, die Sprache des neuen Landes zu lernen, sich zu integrieren, irgendetwas beizutragen und sich der Gesellschaft zu öffnen, in die sie gekommen sind. Diejenigen aber, die nach Europa kommen, nennt man Arbeits- oder Wirtschaftsmigranten. Es gelten dabei vollkommen unterschiedliche Maßstäbe.
Mir gefällt, dass sie gesagt haben „die Sprache zu lernen, um sich zu öffnen“ anstatt „um sich anzupassen“.
Ja, ohne das kann es kaum zu einem gegenseitigen Verständnis kommen.
Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie gesagt haben, dass Kultur erst durch die Vermischung verschiedener Einflüsse entstehe.
Ich denke wirklich, dass eine Kultur erst dann entstehen kann, wenn sie auf andere Kulturen stößt, wenn sie sich gegenseitig neue Impulse geben. Eine „Reinkultur“ gibt es nicht, das ist nicht einmal möglich.
Ihre Bücher beinhalten auch eine Menge Humor und Ironie. Nutzen Sie diese bewusst, um den Ernst der Themen ein wenig zu kompensieren?
Ohne Humor wäre das Leben unerträglich.
Arbeiten Sie momentan an einem weiteren Buch?
Ja, das tue ich.
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