Die letzte Berlinale unter Dieter Kosslick ist zu Ende gegangen: mit einem ungewöhnlich durchkomponierten Wettbewerb – und hitzigen Debatten.
Ein paar Tränen konnte sich Dieter Kosslick am Ende nicht verkneifen: Mit minutenlangem Applaus feierten die Gäste der Bären-Preisgala den scheidenden Berlinale-Direktor. Ein wenig glanzvoller hätte er sich den diesjährigen Wettbewerb vielleicht gewünscht: Zwar gab es Weltstars wie Christian Bale, Diane Kruger oder Catherine Deneuve zu sehen, allerdings nur in Filmen, die nicht um die Bären konkurrierten. Ansonsten war es ein Festival im typischen „Kosslick-Stil“ der vergangenen 18 Jahre: mit der geballten Menge von rund 400 Filmen, Selbstinszenierungen seitens des Hausherrn – und heftigen Kontroversen.
Die Jury hat klug entschieden
Insgesamt 16 Filme mit einer bemerkenswerten ästhetischen und inhaltlichen Bandbreite konkurrierten bei der 69. Berlinale um die Silbernen und den Goldenen Bären: vom lesbischen Liebesdrama über Porträtstudien, eine epische Familiensaga bis hin zum Horrorfilm. Qualitativ, da herrschte am Ende Einigkeit, war es ein eher mittelmäßiger Jahrgang, bei dem die Jury unter Juliette Binoche mit klugen Entscheidungen die richtigen Zeichen setzte.
Den Hauptpreis des Goldenen Bären konnte Synonymes von Nadav Lapid mit nach Hause nehmen. Mit einer nervösen Energie erzählt die französisch-israelische Koproduktion vom radikalen Versuch des jungen Israeli Yoav, in Paris seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Geschichte kreist um Entwurzelung und Sinnsuche und wirft zentrale Fragen nach Identitätsbestimmung in einer von Migration und Wandel bestimmten Welt auf.
Zwei Bären für ungewöhnliche deutsche Filme
Gleich zwei deutsche Regisseurinnen bekamen einen Silbernen Bären. Nora Fingscheidts fulminantes Spielfilmdebüt Systemsprenger über ein traumatisiertes, aggressives Kind erhielt den Alfred-Bauer-Preis für Wettbewerbsbeiträge, die „neue Perspektiven der Filmkunst eröffnen“. An Angela Schanelec, eine der Regisseurinnen der sogenannten Berliner Schule, ging der Silberne Bär für die Beste Regie: Ich war zuhause, aber ist ein puzzleartiger Film über einen 13-Jährigen, der nach Tagen der Abwesenheit zu seiner Familie zurückkehrt. Schanelecs handlungsarmes, artifizielles Sozialdrama mit Shakespeare-Fragmenten, eingerahmt von Tierbeobachtungen, sorgte für Kontroversen im Publikum: Manche Zuschauer konnten mit der rätselhaften Narration nichts anfangen, andere waren begeistert.
Ein Horrorfilm wird heftig diskutiert
Die heftigsten Debatten rief allerdings der dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag Der goldene Handschuh von Fatih Akin hervor. Akin, der 2004 den Goldenen Bären für seine expressive Liebesgeschichte Gegen die Wand gewann, gehört zu den Regisseuren, die durch die Berlinale groß geworden sind. Der Goldene Handschuh, eine Romanadaption von Heinz Strunks gleichnamiger Milieustudie, greift die wahre Geschichte des berüchtigten Hamburger Serienmörders Fritz Honka auf. Die Inszenierung setzt konsequent auf Horroreffekte, Splatter und Ekel und beherrschte noch Tage nach der Premiere die Gespräche. Bei der Preisverleihung wurde der Film nicht berücksichtigt.
Silberne Bären für China und Zensurverdacht
Einig war man sich über den wunderbaren chinesischen Wettbewerbsbeitrag So Long, My Son von Wang Xiaoshuai, der als Favorit ins Bärenrennen ging. Wie viele Regisseure des diesjährigen Wettbewerbs war auch Xiaoshuai kein neues Gesicht: Bereits 2001 hatte Beijing Bicycle einen Silbernen Bären erhalten. Sein aktuelles Drama über ein Paar, das den einzigen Sohn durch einen Unfall verliert, erzählt über drei Jahrzehnte hinweg von den Folgen der Familienpolitik Chinas.
Für ihr sensibles Spiel wurden Wang Jingchun und seine Kollegin Yong Mei mit den Silbernen Bären für die Besten Darsteller ausgezeichnet. Dass die Jury diesen chinesischen Film würdigte, brachte eine weiteren Festivaldiskurs auf den Punkt: Musste doch Zhang Yimous mit Spannung erwarteter Wettbewerbsfilm One Second kurzfristig aus dem Wettbewerb genommen werden – angeblich wegen Produktionsschwierigkeiten. Gemutmaßt wurde allerdings, dass die chinesische Zensur dabei eine Rolle spielte. Die Ära der Kulturrevolution, um die es in Yimous Film geht, ist bis heute in China ein diffiziles Thema.
Die Zukunft des Kinos – und der Berlinale
Dass Isabel Coixets spanischer Wettbewerbsfilm Elisa y Marcela von Netflix produziert wurde, führte bereits vorab zu Protesten seitens der Kinobetreiber. Darf ein Film, der nicht primär für eine Kinoauswertung gedacht ist, im Wettbewerb eines großen Festivals laufen? Außer Frage steht, dass die Streamingdienste nicht nur die Zukunft des Kinos mitbestimmen werden.
Seit Dieter Kosslick 2001 die Leitung der Berlinale übernahm, hat sich die Filmbranche grundlegend verändert – und damit auch die Bedeutung des Filmfestivals. Die audiovisuelle Welt sei „in einem großen, großen Umbruch“, so Kosslick. In den 18 Jahren seiner Ära hatte er vieles bewegt: das deutsche Kino gefördert, sich um Filmtalente gekümmert, die Berlinale zum größten Publikumsfestival der Welt ausgebaut. Im Mai 2019 treten Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek seine Nachfolge an. Die Neuausrichtung der Berlinale – auch angesichts einer sich stetig verändernden Medienwelt – wird wohl die größte Herausforderung sein, der sie sich stellen müssen.