Stolpersteine
Dreifach heimatlos
Manchmal ist es so, dass ganz unerwartet und unwillkürlich in unserem Leben große Geschichten auftauchen. Sie finden einen, ohne dass man nach ihnen sucht. Genauso war es auch mit der Geschichte der Familie Rabínek, die wir hier bei uns im Goethe-Institut unlängst entdeckt haben, obwohl es diese Familie schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gibt, oder vielleicht gerade deshalb.
Von Tomáš Moravec
Wie alles begonnen hat: Rein durch Zufall hatten wir erfahren, dass die Lauder-Schule in Prag Stolpersteine zur „Adoption“ anbietet. Diese kleinen Gedenktafeln, die Stolpersteine genannt werden, werden schon seit vielen Jahren in der Straßenpflasterung verlegt, um an die Schicksale der Menschen zu erinnern, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind oder Schweres durchgemacht haben. Allein in Prag gibt es Hunderte solcher Stolpersteine. Ihre Messingoberfläche glänzt unter den Füßen der durch die Straßen eilenden Passanten, die die kleinen Gedenktafeln häufig gar nicht bemerken. Und genau das wollten die Leute von der Lauder-Schule ändern. Sie wollten, dass Bürger*innen oder Institutionen die Partnerschaft für diese Steine übernehmen, das heißt dass sie sich um sie kümmern, ihre Oberfläche blankputzen und von Zigarettenkippen, angeklebten Kaugummis und Schuhabdrücken reinigen, und vor allem, dass sie die Schicksale der Menschen, deren Namen in die Messingoberfläche der Steine eingraviert sind, erforschen und kennenlernen.
Dieses Vorhaben weckte im Goethe-Institut Begeisterung. Was für eine schöne Initiative! Und als deutsche Kulturinstitution dürfen wir natürlich bei einem solchen Projekt nicht fehlen. Also werden wir für ein paar dieser Stolpersteine und mit ihnen auch die Schicksale von Menschen, die im Leben weniger Glück hatten als die meisten von uns, die Patenschaft übernehmen. Ein Blick in den Stadtplan, in dem die Prager Stolpersteine gekennzeichnet sind, verriet, dass das Adoptionsinteresse groß ist, und dass nur noch einige wenige Stolpersteine zur Adoption frei waren. Also wählten wir uns einen auf dem Karlsplatz (Karlovo náměstí) und drei in der Spálená-Straße aus und füllten das entsprechende Anmeldeformular aus. Belehrt darüber, dass zur Reinigung der Stolpersteine am besten gewöhnliches Essigwasser geeignet ist, führten wir für unsere Mitarbeiter die Einteilung zum sogenannten Putzdienst ein.
Eine unerwartete Geschichte
„Wer waren diese Menschen eigentlich?“, fragte unsere Direktorin, Angelika Ridder. Wir konnten nur mit den Schultern zucken und gestehen: „Viel wissen wir nicht.“ Auf den Internetseiten Holocaust.cz stand zu „unseren“ Stolpersteinen nur geschrieben, dass sie an die Familie Rabínek erinnern sollen, das heißt an Mutter Josefa, Vater Emil und Tochter Franzi. Josefa und Emil wurden im Vernichtungslager Maly Trostinez (Weißrussland) ermordet. Die fünfundzwanzigjährige Franzi hat den Krieg überlebt. Da der Fonds der Familie Rabínek bisher noch nicht bearbeitet wurde, haben wir – ehrlich gesagt – nichts Außergewöhnliches erwartet. Und doch verbarg sich hinter unseren Stolpersteinen eine keinesfalls alltägliche Geschichte!Eines der wenigen Dokumente, das auf den Internetseiten Holocaust.cz unter dem Namen Josefa Rabínková zu finden ist, ist ihr Antrag auf einen Reisepass. Das vom 12.5.1919 datierte, ansonsten unauffällige Dokument trägt im Kopfteil die Anschrift des Modesalons Joža Weigertová, und darunter steht der Hinweis, dass die genannte Josefa Rabínková die Inhaberin dieser Firma mit Sitz in der Spálená Straße Nr. 53 sei. Und siehe da! Das heißt also, dass Josefa Rabínková und Joža Weigertová ein und dieselbe Person waren … Nach einigem Suchen fanden wir heraus, dass die mährische Jüdin Josefa Sachelesová, geboren 1882 in Wien, unter dem Namen ihres ersten Ehemanns als Weigertová einen Modesalon eröffnet hat, der in den Jahren der sog. Ersten tschechoslowakischen Republik zu den besten in Prag zählte. Die Ehe wurde jedoch geschieden, und nach einiger Zeit heiratete Josefa Weigertová einen gewissen Emil Rabínek, Ingenieur, und hieß danach dann also Josefa Rabínková.
Drei Schicksale im Straßenpflaster
Die nächsten Schritte, um Josefa und ihre Familie näher kennenzulernen, waren für uns nicht schwer, denn vor uns hatten andere schon ausführlich recherchiert. Zu unserer großen Überraschung entpuppte sich die amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Helen Epstein als Enkelin von Josefa und Emil und als Tochter von Franzi, die den Krieg überlebt hatte. Helen Epstein (*1947 in Prag) ist in der Schneiderwerkstatt ihrer Mutter in Manhattan aufgewachsen. Ihre Mutter sprach nicht gern über die Vergangenheit ihrer Familie. Doch Helen ließ das keine Ruhe. Gleich nach der samtenen Revolution im Jahr 1989 reiste sie in die Tschechoslowakei, um hier auf abenteuerliche Art und Weise nach den Spuren ihrer eigenen Vergangenheit und der Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern zu suchen. Sie verfasste eine Reihe von Büchern, unter anderem auch das Buch Dreifach heimatlos, in dem sie drei Generationen von Frauen aus ihrer Familie beschrieb: ihre Mutter Franzi, die mit der schweren Situation des Verlusts ihrer Familie und ihres Vermögens fertig werden musste, ihre Großmutter Pepi (Josefa), die als Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen Karriere machte und sich zur Inhaberin eines der besten Prager Modesalons hocharbeitete, und ihre Urgroßmutter Tereza, ein armes jüdisches Mädchen aus dem ostböhmischen Städtchen Pirnitz (Brtnice), die sich in Wien das Leben nahm, weil sie ihr Unglück nicht weiter zu ertragen vermochte.Obwohl die Geschichte der Familie Rabínek mit mattglänzenden Stolpersteinen vor dem Haus Nr. 53 in der Spálená-Straße beginnt und von Unglück und tiefem Leid – so tief, wie es nur die Juden kennen – geprägt ist, ist das Buch keine traurige Lektüre. Im Gegenteil! Das Buch ist schön, abwechslungsreich und unglaublich lebendig. Helen Epstein erzählt in Dreifach heimtlos die Geschichten ihrer Vorfahrinnen mit Begeisterung und Fingerspitzengefühl. Das Buch ist keine tragische Familienbiografie, sondern eine spannende Geschichte, die seinerzeit im jüdischen Ghetto begann und dann ihren Lauf nahm über eine Wiener Vorstadt, den Stadtrand von Kolín bis in die fast unmittelbare Nachbarschaft des heutigen Prager Goethe-Instituts, und selbst vom Konzentrationslager Theresienstadt und dem Vernichtungslager Maly Trostinez nicht vollständig abgebrochen wurde, sondern weiter nach Manhattan führte und von da aus in Gestalt eines Stolpersteins in der Pflasterung der Spálená-Straße nach Prag zurückkehrte.
Der Weg nach vorn
Aus unserem anfänglichen Vorhaben, ein paar Stolpersteine zu putzen und damit die Erinnerung an unbekannte Opfer des Nationalsozialismus zu bewahren, ist auf einmal viel mehr geworden. Wenn wir heute mit Putzlappen und Essigwasser drei Messingtafeln im Prager Straßenpflaster blankwischen, sind die Toten, an die sie erinnern sollen, längst keine Unbekannten mehr. Wir sehen, wie Pepi, im Jahre 1904 aus der ärmlichen „Judengasse“ in Kolín kommend, in Prag mutig und entschlossen den besten Prager Modesalon betritt und um eine Anstellung bittet, um von hier aus dann ihre steile Karriere zu starten. Wir sehen ihren Ehemann Emil – großgewachsen, elegant und nie um einen Spaß verlegen –, der Glühlampen und Telegrafengeräte nach Böhmen einführte. Und wir sehen Franzi, die junge Schneiderin, die während des Krieges die Hölle durchmachte und danach ein neues Leben in Amerika anfing, einem Land, in dem es keine Judenghettos gab und auch keine Prager Modesalons.Wenn Sie also über diese Steine stolpern, schenken Sie ihnen eine Erinnerung! Sie können auch in das Haus mit der Hausnummer 53 hineingehen. Die Geschichte hat offensichtlich Sinn für Humor, denn genau in den Räumen, in denen Josefa Rabínková vor hundert Jahren Spitzen zuschnitt und Rüschen raffte, die die Kleider von Schauspielerinnen aus der Zeit der Ersten tschechoslowakischen Republik zieren sollten, befindet sich heute ein Antiquariat, in dem es auch Bücher von Helen Epstein, Josefas Enkeltochter, zu kaufen gibt. So können Sie die ungewöhnlichen Schicksale kennenlernen, die mit den drei Stolpersteinen verbunden sind, die heute von der Direktorin des Goethe-Instituts geputzt werden.
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