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Journalismus in Russland
„Die Fakten von den Lügen trennen“

Presse in Russland - zwischen Restriktionen seitens der Regierung und den Begleiterscheinungen des digitalen Wandels
Presse in Russland - zwischen Restriktionen seitens der Regierung und den Begleiterscheinungen des digitalen Wandels | Foto (Detail): © Kirill Zharkoy on Unsplash

Wenn ein Chefredakteur sich wünscht, dass Journalist*innen in Russland möglichst alt sterben, verweist das auf die dortige Gefahrenlage für diesen Berufsstand. Ksenia Lutschenko, Journalistin und Medienwissenschaftlerin, schreibt über das aufreibende Geschäft der freien Berichterstattung und Meinungsäußerung in ihrer Heimat und über die Krise des traditionellen Journalismus.
 

Von Ksenia Lutschenko

Im Jahr 2021 hat das Norwegische Nobelkomitee den Friedensnobelpreis an zwei Journalist*innen vergeben: an den Chefredakteur der russischen Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, und die Gründerin des philippinischen Mediums Rappler, Maria Ressa. In seiner Nobelpreisrede sagte Muratow, dass „dieser Preis der gesamten Berufscommunity wahrer Journalist*innen gebühre“. So wurde die Auszeichnung auch in Russland aufgefasst. Die Nowaja Gaseta ist das einzige Medium in der russischen Medienlandschaft, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden ist und bis heute unter seinem ursprünglichen Namen und mit unverändertem Kern an Redaktionsmitgliedern überlebt hat.

Außerdem steht es in der Tradition des klassischen Journalismus und befolgt die Prinzipien unabhängiger Medien. Muratow, der stellvertretend für alle russischen Journalist*innen in Oslo auf dem Podium stand, sprach in seiner Rede zwei wichtige Momente an, die in vielerlei Hinsicht die Selbstwahrnehmung dieser Community beschreiben: „Das ‚Philosophenschiff‘ wird heute ersetzt durch den ‚Journalismusflieger‘“ und „Ich möchte, dass Journalist*innen alt sterben“.

Der Chefredakteur der Nowaja Gaseta musste bereits sechs seiner Mitarbeitenden zu Grabe tragen, die in den Jahren zuvor wegen ihrer journalistischen Tätigkeit ermordet wurden: Journalist*in zu sein, über gesellschaftspolitische Themen zu schreiben und investigativ zu arbeiten – all dies bedeutet in Russland, sich einer Todesgefahr ausgesetzt zu sehen und Gefahr zu laufen, kein fortgeschrittenes Lebensalter zu erreichen.

Mit dem Begriff „Philosophenschiff“ verweist Muratow auf ein Ereignis in der russischen Geschichte, nämlich auf die gewaltsame Ausweisung von Philosoph*innen und Inhaber*innen anderer universitärer Professuren aus dem postrevolutionäre Petrograd (heute: Sankt Petersburg, Anm. d. Red.). Nicht wenige von ihnen verließen Russland im Herbst des Jahres 1922 auf zwei Schiffen. Heute kehren Journalist*innen Russland den Rücken, nachdem die Regierung die Medien, bei denen sie arbeiten, oder sie als Personen zu „ausländischen Agent*innen“ erklärt hat. De facto bedeutet das nicht nur, ein unehrenhaftes Brandmarken als neue „Volksfeinde“, mit der jede*r „Agent*in“ jedwede öffentliche Meinungsäußerung zu kennzeichnen verpflichtet ist – darunter auch Geburtstagsglückwünsche an Freund*innen via Facebook. Es zieht auch Einschränkungen der rechtlichen Freiheiten und die Notwendigkeit, Nachweise über jeden erhaltenen oder ausgegebenen Rubel zu leisten, nach sich.

Im Jahr 2021 haben nach Angaben der Rechtsschutzorganisation OWD-Info* (s.u. Anmerkungen der Redaktion) etwa Tausend Aktivist*innen und Journalist*innen Russland verlassen, hauptsächlich, weil man sie aus politischen und steuerlichen Gründen verfolgt und bedroht hat. Die betroffenen Personen emigrieren zumeist in die baltischen Staaten und nach Georgien. Der in die USA ausgereiste ehemalige Chefredakteur des investigativen Mediums Projekt*, Roman Badanin*, der – wie fast die gesamte Redaktion – als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, hat für neue russischsprachige Medien im Exil den Begriff „Offshore-Journalismus“ geprägt.

Eine Warnmeldung ist in rot hervorgehoben Webseite des unabhängigen Fernsehkanals Doschd, der in Russland als „ausländischer Agent“ klassifiziert wurde. Eine obligatorische Warnmeldung zu diesem Status als „Inoagent“ wird mit jeder Nachrichtenmeldung eingeblendet. Zum besseren Verständnis ausländischer Leser*innen ist die Warnmeldung durch rote Rahmen markiert. | Screenshot der Webseite tvrain.ru vom 21.02.2022

 

Meinungsfreiheit und Medien in Transformation

Das föderale „Gesetz über die Medien“ war eines der ersten Gesetze, die 1991 im neuen freien Russland ratifiziert wurden. Im globalen Vergleich galt es als sehr demokratisch, durchdacht und liberal. Doch im letzten Jahrzehnt wandelte sich die russische Gesetzgebung in Bezug auf Meinungsfreiheit und Massenmedien Schritt für Schritt und wurde immer drastischer. So erhielten etwa staatliche Organe das Recht einer vorgerichtlichen Blockierung von Webseiten, sollte es auf diesen Bezugnahmen auf Selbstmordpraktiken oder Drogen geben. In der Regel halten sich die Beamt*innen jedoch nicht lange mit dem Inhalt der Texte auf, zu denen Beschwerden eingehen. Oder aber sie schüchtern konkrete Medien gezielt ein, weshalb viele investigative Arbeiten unter das Gesetz fielen – manche sogar in doppelter Hinsicht, wenn man zum Beispiel Material zu einer Selbstmordwelle unter onkologischen Patient*innen publizierte, die auf legale Weise nicht an schmerzstillende Präparate gelangen konnten. Ein solches Thema kann also gar nicht mehr journalistisch beleuchtet werden.. 

Es folgten Gesetze, die besagten, dass Ausländer*innen nicht mehr als 20 Prozent des Kapitals an russischen Medien besitzen dürfen, wodurch Druckerzeugnisse, die sich früher im Besitz internationaler Holdings wie Sanoma, Axel Springer und anderen befanden, unter die Kontrolle regierungsnaher Strukturen fielen. Weiter wurden die genannten Gesetze über „Medien-Inoagenten“ (Inoagent = ausländischer Agent, Anm. d. Red.) und physische Personen als „Inoagenten“ vorangetrieben, die Journalist*innen dazu zwingen, mit einer Art Brandmal zu leben, auf Grund dessen sie niemand mehr einstellen wird – oder sie müssen emigrieren. Parallel hierzu wurden andere Gesetze verabschiedet, die ebenfalls die beruflichen Möglichkeiten von Journalist*innen einschränken – in einem geht es um die Kränkung der Gefühle Gläubiger, in anderen um die Herabwürdigung der Regierung und die Verbreitung von Fake News.

Vor diesem Hintergrund vollzog sich innerhalb der journalistischen Community eine Spaltung: Es gab einige Journalist*innen, die bereit waren, für Medien zu arbeiten, in denen verdeckte oder sogar offene Zensurregeln gelten. Andere suchen weiterhin nach Möglichkeiten, für unabhängige Medien zu schreiben – deren Zahl immer weiter sinkt, genau wie die hier zu erwirtschaftenden Einkünfte. Die erste Gruppe verurteilt die zweiten für ihren Idealismus und das Eingehen eines unverhältnismäßigen Risikos, die zweite wirft der ersten Gruppe Konformismus und Verrat an ihrem Beruf vor.

Krise des Journalismus im digitalen Zeitalter

Parallel zu diesem für Russland spezifischen Problem haben Journalist*innen hierzulande mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie Kolleg*innen auf der ganzen Welt – mit einer Krise ihres Berufs, bewirkt durch die Digitalisierung. In den letzten zwei Jahrhunderten hatten klassisch ausgebildete Journalist*innen ein Monopol auf die Versorgung ihres Publikums mit Nachrichten und dokumentarischen Geschichten, sie vermittelten zwischen Eliten, Gesellschaft und verschiedenen Gruppen innerhalb dieser Gesellschaft. Jetzt sind es Blogs, soziale Netzwerke und andere Formen neuer Medien, die diese Rolle einnehmen. So schreibt Andrej Miroschnitschenko, Medien-Dozent an der Universität York (Toronto) und Autor des Buches Postjournalism and the death of newspapers. The media after Trump: manufacturing anger and polarization (2020): „Der traditionellen Journalistik als Institut, Industrie und Beruf bleiben noch fünf Jahre der Agonie und weitere zehn Jahre Todeskampf.“

Der klassische Journalismus, vom Nobelkomitee in Person von Muratow und Ressa ausgezeichnet, unterscheidet sich von anderen Berufen im Medienbereich (Bloggen, PR, Storytelling, Marketing in sozialen Netzwerken usw.) nur in einer Hinsicht – in Bezug auf ethische Kodexe und professionelle Standards. Und genau diese garantieren eine Qualität im Umgang mit Informationen. Sie basiert auf Materialien, die von Journalist*innen geschrieben oder bildlich festgehalten wurden und die redaktionell geprüft worden sind. Aber auch hier ist nicht alles so einfach, wie es scheint. Sowohl die traditionellen Printmedien, die in fast unveränderter Form ins Internet transferiert wurden, als auch das Fernsehen mit Programmen auf mehreren Kanälen entstand während der industriellen Epoche und befand sich im Einklang mit der politischen Kultur der Moderne. Im Verlauf der Geschichte des traditionellen Journalismus gab es beständige Kämpfe um Unabhängigkeit sowie Diskussionen über Machtmissbrauch seitens der Eigentümer*innen von Medienhäusern. Ethische Kodexe von Redaktionen entstanden vor dem Hintergrund, dass sowohl Journalist*innen als auch Leser*innen vor Manipulationen, ausgeübt durch Besitzer*innen von Medienholdings und politischen Kräften, zu schützen seien. Es galt zu verhindern, dass Werbekund*innen auf die Inhalte von Publikationen Einfluss nehmen können.

Diese Kodexe verschleißen langsam und wandeln sich in ideologische Konstrukte, die sich ethisch gesehen nicht immer im Detail umsetzen lassen. Wartet man beispielsweise noch auf die Bestätigung einer zweiten Quelle, wenn die Information bereits in den sozialen Netzwerken auftaucht? Muss man jeweils allen Seiten das Wort erteilen, wenn eine Partei etwa die Existenz des Corona-Virus in Frage stellt oder der sexuellen Belästigung beschuldigt wird? Darf man sich als Journalist*in an aktivistischen Aktionen beteiligen, sich offen mit einer bestimmten gesellschaftlichen Kraft solidarisieren, oder liegt in diesem Fall ein Interessenskonflikt vor? Das sind nur einige von vielen Fragen, deren Antworten früher auf der Hand lagen, die jetzt aber neu betrachtet werden müssen. Die Begriffe Unparteilichkeit und Objektivität, die für Journalist*innen einiger Generationen das Fundament ihrer Arbeit bildeten, erweisen sich heute als nicht mehr so eindeutig bestimmend.

Und dennoch: Bislang wurden keine anderen, zuverlässigeren Garantien für die Qualitätssicherung von Informationen entwickelt als die professionellen Arbeitsstandards für klassische Journalist*innen. Deshalb sind in Russland die erfolgreichsten und beliebtesten Videoblogger*innen, Interviewer*innen und Autor*innen von Dokumentarfilmen, die auf YouTube von Millionen russischsprachiger Nutzer*innen angeklickt werden, ehemalige Journalist*innen aus dem Fernsehen und von großen Medien, denen ihre Arbeit im traditionellen Journalismus aufgrund zensurbedingter Einschränkungen verwehrt worden war.

„Es ist klar, was unsere Arbeit ist“

Die Journalistik als Institution muss ihre Hauptfunktion für die Gesellschaft neu ausloten: Kommunizieren Journalist*innen den Massen das, was die Eliten für angebracht halten und die „alles besser wissen“ (hier sind nicht nur die politischen Eliten gemeint, sondern die Expert*innengesellschaft im Ganzen) oder geben sie der Gesellschaft eine neue Sprache für die Lösung ihrer Probleme an die Hand und kehren zu ihrer Funktion als Vermittler*innen und Übersetzer*innen zurück?

Das Publikum erwartet von Journalist*innen keine exklusiven Nachrichten und Kommentare mehr – denn diese werden in Echtzeit durch die Algorithmen der sozialen Netzwerke erstellt und mittels einer kollektiven Intelligenz, die Andrej Miroschnitschenko als „viralen Redakteur“ bezeichnet, selektiert. Doch die Verifizierung von Informationen, ihre Einbettung in einen Kontext und die Navigation liegen nach wie vor im Verantwortungsbereich von Journalist*innen. Im Fall von Russland sind diejenigen, die diesen Beruf ausüben, wie in einem Sandwich zwischen dem Druck der Regierung und dem digitalen Wandel eingequetscht. „Wir sind Journalist*innen. Es ist klar, was unsere Arbeit ist: die Fakten von den Lügen zu trennen“, sagte Muratow in seiner Nobelpreis-Rede. Diese Aufgabe gestaltet sich immer komplexer.
 

Anmerkungen der Redaktion: 

OWD-Info ist ein unabhängiges Medienprojekt im Bereich Rechtsschutz, das gegen politische Verfolgungen in Russland vorgeht. Nach der Deklarierung zum „ausländischen Agenten“ wurde die Webseite des Projekts, ovdinfo.org, in Russland durch den „Roskomnadsor“ (einen föderalen Aufsichtsdienst im Bereich Nachrichtenwesen, Informationstechnologie und Massenkommunikation) nach einer Gerichtsentscheidung aufgrund der „Propaganda von Terrorismus und Extremismus“ im Rahmen der Projekttätigkeit blockiert.

Projekt ist ein Medium, das sich auf schwierige journalistische Genres spezialisiert hat: investigativen Journalismus, Geschichten, Porträts und Analysen zu Open Data. Durch die Klassifizierung als „ausländischer Agent“ wurde die Webseite www.proekt.media in Russland auf Forderung der Generalstaatsanwaltschaft hin von „Roskomnadsor“ blockiert; die Aktivitäten des Projekts wurden als „unerwünscht“ eingestuft. 

Roman Badanin ist ein russischer Journalist sowie Gründer und Chefredakteur der Medien Projekt (bis 2021) und Agenstvo (seit 2021). Vorher war er Chefredakteur der Webseite von Forbes Russia und Chefredakteur des unabhängigen Fernsehkanals Doschd, der ebenfalls in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde. Auch Roman Badanin steht auf der Liste der „Medien‑Inoagenten“. 

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