© Matthes & Seitz Verlag, Berlin, 2021
Es wird in unsren Tagen viel über „Fake News“ gesprochen, es gibt schon reichlich Abhandlungen, die ihr Wesen und ihre sozialen Funktionen zu bestimmen versuchen. Nicola Gess (die in Basel lebende Professorin für Literaturwissenschaft) spricht lieber über Halbwahrheiten. „Halbwahrheiten sind Äußerungen, die nur zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen aber auf fiktiven Inhalten basieren.“ Halbwahrheiten sind nicht „wahr“, aber auch nicht „falsch“ (grundfalsch), sie liegen irgendwo dazwischen; sie besitzen zwar einen gewissen Wahrheitsgehalt, der aber verdrängt oder verschüttet wird. (Es bestehen gewisse Parallelen zwischen Halbwahrheiten und Ideologien, die die Autorin auch sorgfältig herausarbeitet, mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie Theodor W. Adornos.)
Wie und warum kommt es aber zu einer „Verstellung“ der Wahrheiten? Das ist keine leichte Frage, auf jeden Fall soll es eine historische Epoche geben, die man mit dem Begriff „postfaktische Rhetorik“ beschreiben kann, und angeblich leben wir eben in dieser. (Um das zu veranschaulichen, lesen wir in dem kleinen Buch Fallstudien über journalistische Hochstapler, über Corona-Verschwörungstheorien und über die Rhetorik des Rechtsrucks.) Die Komponenten einer solchen Phase sind vor allem die Verbreitung der sozialen Medien und eine Tendenz der populistischen Politik. Warum soll das aber so gefährlich sein? Halbwahrheiten gab es wahrscheinlich schon immer; wenn diese aber ein ganzes Zeitalter bestimmen, entsteht eine tiefe „Krise der Faktizität“, die letztendlich auch die Selbstverständlichkeit der demokratischen Institutionen untergräbt.
Die Autorin suggeriert aber noch mehr: Die Erschütterung des Wahrheits- und des Wirklichkeitssinnes kann zu einem Zivilisationsbruch führen. Das macht dieses kleine Werk so wichtig.
Matthes & Seitz Verlag