Future Perfect
Kultur statt Folklore
Blick über die Mirui Straße | © standardarchitects, Foto: Cheng Shu
Weil die chinesische Mittelschicht Erholung sucht, geraten auch entlegene Regionen in den Fokus kommerzieller Entwicklung. Doch Architekten wie standardarchitecture zeigen Alternativen auf: In ihren Bauten treffen sich lokale Tradition und touristische Erschließung.
Touristische Themenparks?
Als 2006 der Flughafen Nyingchi etwa 250 Kilometer östlich von Lhasa eröffnete, begann für den Tourismus im Tal des Yarlong-Flusses in der autonomen Region Tibet ein neues Zeitalter. Von der zentralchinesischen Metropole Chengdu gelangt man heute per Flugzeug täglich in nur zwei Stunden nach Nyingchi. Das entwicklungspolitische Ziel dieser Anbindung: Schnell soll sich die Region zu einem populären Reiseziel entwickeln. Nach guten Gründen für eine Reise ins Yarlong-Tal muss man nicht lange suchen: Von März bis April lockt die Pfirsichblüte, später Wanderungen in den unberührten Hochtälern, Wildwasserfahrten und Bergsteigen, unter anderem in der tiefsten und längsten Schlucht der Welt, der Tsangpo-Schlucht.2012 beschloss die lokale Regierung den Bau von insgesamt 22 Touristendörfern, die nach Verlautbarung des örtlichen Parteisekretärs als „typische Touristendörfer im Schweizer Stil“ die Region aus dem Dornröschenschlaf katapultieren sollten. Sie waren isoliert von der bestehenden Dorfstruktur geplant und sollten ausschließlich dem massentauglichen Tourismus dienen. Der beauftragte amerikanische Themenpark- und Hotelentwickler plante unter anderem Shoppingmalls im pseudo-tibetanischen Stil, die jedoch bis heute nicht zur Ausführung kamen.
Doch neben solchen Großprojekten mit teils eher fragwürdigen Konzepten entstehen in den letzten Jahren auch andere, kleinere Projekte, die sich aus der lokalen Tradition speisen, ohne diese zu kopieren. Hier wird mit unauffälligen Einzelbauten die Infrastruktur für die Bewohner verbessert und gleichzeitig auch der Individualtourismus unterstützt.
Die Suche nach Alternativen
Seit einigen Jahren arbeitet die Pekinger Architekturfirma standardarchitecture in der Region. Die ersten Projekte wurden 2008 fertiggestellt: ein Bootsanleger am Ufer des Yarlong-Flusses in der Nähe des Ortes Paizhen (派镇), ein Besucherzentrum im selben Ort sowie eine Platzgestaltung für einen alten Maulbeerbaum in der Nähe. Der kleine Bootsanleger beherbergt Aufenthaltsräume für Reisende, wo Tickets verkauft werden, und wenn wegen schlechten Wetters der Bootsverkehr eingestellt werden muss, können die Reisenden hier auch übernachten. In Rampen zieht sich das Gebäude am Ufer hoch und bietet von oben einen Ausblick über den Fluss. Je nach Wasserstand legt das Boot in unterschiedlicher Höhe der Rampe an. Als Baumaterial verwendeten die Architekten Steine aus der Gegend, und den Innenausbau führten lokale Handwerker nach ihren Methoden aus.Die im selben Jahr realisierte Platzgestaltung setzt einen 1.300 Jahre alten Maulbeerbaum in Szene. Der Baum steht außerhalb des kleinen Dorfes Jiala in der Tsangpo-Schlucht, auf einer neu angelegten Kiesfläche, auf der einige grob gehauene Steine zum Sitzen einladen. Die lokale Bevölkerung nahm durch diese Maßnahme den Baum in einem neuen Kontext wahr und begann ihn mit Gebetsfahnen zu schmücken. Dies hat auch mit der Geschichte der Prinzessin Wencheng (文成公主) zu tun, die bereits vor über 1.000 Jahren von hier auf die gigantische Kulisse der weit über 7.000 Meter hohen Berge geblickt haben soll. Ihr Name lockt noch heute viele Touristen hierher. Zur Zeit der Tang-Dynastie im 7. Jahrhundert n. Chr. machte sich die chinesische Kaisertochter auf den Weg nach Lhasa, um den tibetischen König Gampo zu heiraten. Sie brachte angeblich nicht nur die für die Seidenproduktion notwendigen Maulbeerbäume nach Tibet, sondern auch den Buddhismus – weswegen man sie bis heute noch unter dem Namen „Weiße Tara“ als Bodhisattva verehrt.
Integrierte Infrastruktur für Touristen und Bewohner
Ebenfalls 2008 stellte standardarchitecture ein Besucherzentrum in Paizhen fertig. Am Eingang zur Tsangpo-Schlucht erfahren Wanderer etwas über die Region und den nicht weit entfernten, über 7.700 Meter hohen Berg Namjagbarwa, der an der großen Biegung des Yarlong-Flusses liegt. Die vor Ort gefundenen Steine für die massiven Wände lassen das Gebäude in der Landschaft verschwinden und integrieren die neue Infrastruktur mit den lokalen Gegebenheiten. Doch nicht nur Reisenden dient das Gebäude mit seinem Informationszentrum, seiner Internetbar, der Krankenstation und einem Raum für Reiseführer, sondern es beherbergt auch Infrastruktur für das Dorf, wie einen Wassertank, den zentralen Elektroverteiler und Besprechungsräume für die Bewohner.Drei Jahre später konnten die Architekten der jungen Pekinger Architekturfirma erneut mehrere kleine Bauten im Auftrag der Tibetan Tourist Holding fertigstellen. Dazu gehören das Niyang-Fluss-Besucherzentrum, das Yarlong-Schlucht-Kunstzentrum sowie ein Gebäude für die Schifffahrtsbehörde. Das Bauwerk für die Behörde zieht sich mehrere Hundert Meter im Zickzack entlang eines Hügels in die Höhe und ist ebenfalls durch die Verwendung von Steinen aus der Umgebung in die Landschaft integriert. Hier kooperierten die chinesischen Architekten mit Kollegen aus Portugal. Das Kunstzentrum entstand in Paizhen und besteht aus einer zweigeschossigen Struktur mit Pavillons, die Büros, ein Restaurant, eine große Toilettenanlage, Ausstellungsflächen und einen Busbahnhof aufnehmen.
Wie die Projekte von standardarchitecture zeigen, ist eine angepasste Bauweise für touristische Infrastruktur möglich, ohne das Echte der Kultur mit der Nachahmung folkloristischer Tradition zu diskreditieren. Auch in Tibet, das durch gleichmachende Urbanisierungspolitik seine einheimische Baukultur zu verlieren droht, aber in besonderem Maße über ebendiese Kultur wahrgenommen wird, sind Entwicklung und Erneuerung unumgänglich. Ob sich dabei das offensichtlich von „oben“ parteipolitisch motivierte „Schweizer Touristendorf“ als Themenpark durchsetzt, wird die Zukunft zeigen. Wünschenswert wäre es, wenn durch angepasste Erneuerung auf lokaler Ebene eine Infrastruktur für Besucher und Einheimische entstünde. Denn das hieße: Eines der letzten Naturwunder bleibt für zukünftige Generationen erhalten, und gleichzeitig erhält die lokale Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Kultur in zeitgenössischer Form weiterzuentwickeln