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Reiner Stach
Franz Kafka im 21. Jahrhundert

Kafka, 34 jährig, im Juli 1917
Kafka, 34 jährig, im Juli 1917 | © Wagenbach Verlag (Art work: Tobias Schrank)

Warum ist Franz Kafkas Zauber einhundert Jahre nach seinem Tod ungebrochen? Warum empfinden wir Kafka noch immer als so modern und gegenwärtig? Was erwartet uns im Kafka-Jubiläumsjahr 2024? Reiner Stach, Kafkas bedeutendster Biograf, gibt Antworten.
 

Von Reiner Stach

Der Prager Schriftsteller Franz Kafka, der 1924 im Alter von nur vierzig Jahren starb, gilt seit langem als einer der Begründer der literarischen Moderne. Obwohl er nur wenige Prosawerke selbst veröffentlichte und außergewöhnlich viele Fragmente hinterließ – alle seine drei Romane blieben unvollendet –, ist sein Status als Klassiker heute unangefochten. Wer als Schüler eines deutsch­sprachigen Gymnasiums den „Leistungskurs Deutsch“ belegt, wird unweigerlich Kafka begegnen, und in fast allen Bundesländern in Deutschland waren Texte Kafkas auch schon Thema der Abiturprüfung.

Doch selbst im erlesenen Kreis der Klassiker nimmt Kafka einen auffälligen Sonderstatus ein. Denn einerseits gilt er als besonders schwieriger, tiefgründiger, nicht selten in Rätseln sprechender Autor, der weltweit Generationen von Exegeten beschäftigt hat und noch immer beschäftigt; ein Autor, dessen Texte wie Offenbarungen studiert werden, Zeile für Zeile und oft methodisch hoch gerüstet. Längst nicht mehr zählbar sind die Publikationen über ihn, ja selbst die in immer neuen Varianten aufgelegten Interpretationshilfen für Lehrer und Schüler überblickt niemand mehr. Anderer­seits jedoch gibt es keinen weiteren Autor des 20. Jahrhunderts, der derart viele kreative Menschen angezogen und inspiriert hat, teils weit über die Grenzen der Literatur hinaus, darunter Illustratoren und Maler, Filmregisseure, Komponisten, Schauspieler und Theatermacher.

Ein solches posthumes Doppelleben ist in der Weltliteratur nur einer sehr kleinen Zahl von Autoren vergönnt – die nicht nachlassende Wirkung Shakespeares ließe sich wohl noch am ehesten mit der Kafkas vergleichen. Die Werke dieser Schriftsteller scheinen nicht zu altern, jede weitere Generation von Lesern fühlt den Impuls, sich neu mit ihnen auseinanderzusetzen, und auch die Tatsache, dass die Texte als akademische Forschungsfelder längst hundertfach vermessen und umge­graben wurden, ändert daran nichts.

Kafka und die Hyper-Bürokratie

Diese Vitalität, die auch an der Zahl der Übersetzungen deutlich ablesbar ist, wurde vielfach damit erklärt, dass solche Autoren eben eingängige Bilder für fundamentale menschliche Erfahrungen liefern: Erfahrungen, die über die Grenzen von Epochen und Kulturen hinweg wiedererkannt und verstanden werden. Für etliche Werke Kafkas trifft dies zweifellos zu. Mag sein, dass die Allmacht des Vaters, deren tödliche Konsequenz Das Urteil schildert, heute nicht mehr in allen Teilen der Welt als Problem gesehen wird. Doch innerhalb der eigenen Familie sich als Fremdkörper zu fühlen (Die Verwandlung) oder von einer eingeschwo­renen Gemeinschaft nur deshalb abgelehnt zu werden, weil man ihre Spielregeln nicht kennt (Das Schloss) – dies sind Erfahrungen, die in jeglichem Kulturkreis plausibel und daher auch literarisch vermittelbar sind.

Bei Kafka kommt jedoch noch eine andere Dimension hinzu, die für seine Popula­rität zumindest ebenso bedeutsam ist: Er schildert eine unzweifelhaft moderne Welt, die unheimliche Züge angenommen hat. Das wurde zunächst missverstanden. Denn die Erfahrungen totalitären Terrors verführten viele Leser der ersten Generation dazu, Kafka als einen Propheten zu lesen, der das Grauen des Faschismus und des Stalinismus vorhergesehen habe. Inzwischen jedoch lesen wir seine Texte aufmerksamer und weniger voreingenommen. Dabei wird deutlich, dass jene „kafkaesken“ Szenarien – insbesondere in Der Process und Das Schloss – uns nicht deshalb so nahegehen, weil ihre Helden willkürlicher Gewalt unterworfen wären. Das albtraumhafte Moment besteht vielmehr darin, dass diese Helden immerzu in undurchschaubare Situationen gestellt sind, in denen sie sich beobachtet und ihrer Intimsphäre beraubt fühlen. Verlangen sie Aufklärung, so kommt man ihnen scheinbar bereitwillig entgegen, sie bekommen Informationen in Fülle, doch nie ist irgendetwas dabei, was von wirklichem Nutzen wäre. Man lässt sie auflaufen, schickt sie von einer Instanz zur nächsten, und zuständig ist letztlich niemand.

Dies sind Erfahrungen, die charakteristisch sind für moderne, bürokratisch überregulierte Massengesellschaften, in denen man sogar die eigene berufliche oder finanzielle Situation oft nur noch mit Hilfe von Beratern überblickt. Sie sind noch charakteristischer für Gesellschaften, in denen die Kommuni­kation zunehmend anonymisiert oder sogar automatisiert ist (social media, hotlines), private Daten exzessiv missbraucht werden und Überwachungstechniken immer großflächiger zum Einsatz kommen. Wer im 21. Jahrhundert Kafkas Process liest, erkennt daher etwas wieder, das der Autor in diesem Ausmaß unmöglich vorhergesehen haben kann, das jedoch zumindest als bedrohliche Tendenz auf seinem sozialen Radar aufgetaucht sein muss. Dies ist gewiss einer der wesentlichen Gründe dafür, warum wir Kafka noch immer als so modern und gegenwärtig empfinden.

Kafka und die Tiere

Als weiteres Moment kommt hinzu, dass heutige Leser Kafkas sich längst nicht mehr auf einige wenige klassische Texte beschränken. Kafkas umfangreicher Nachlass ist vollständig erschlossen und inzwischen auch in preiswerten Leseausgaben zugänglich. Das Fischer Taschenbuch mit den gesammelten Erzählungen beispielsweise enthält mehr als achtzig Texte. Von diesen sind zwar etliche fragmentarisch, insgesamt jedoch bietet sich nun den Lesern ein viel weiteres und auch farbigeres literarisches Panorama, jenseits von Vaterkomplex und Schuld-und-Strafe-Thematik, womit man Kafka einst so beharrlich identifiziert hatte.

Ein Beispiel hierfür bieten die erstaunlich vielen Prosawerke, in denen sprechende und denkende Tiere auftreten – ein ganz eigenständiges Motiv, das zwar bei Schauspielern von jeher beliebt war (Ein Bericht für eine Akademie – die „Affengeschichte“), das aber im Unterricht und in der akademischen Diskussion eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Es ist durchaus denkbar, dass diese Tierfiguren allmählich zu einem weiteren Markenzeichen Kafkas werden, vor allem dann, wenn Theater und Film sie noch häufiger und intensiver inszenieren als bisher.

Kafka und die Komik

Ebenso verändert und erweitert hat sich der Blick auf Kafkas Komik. Dieser Blick war anfangs durch weltanschauliche Diskussionen verstellt: Kafka als existenzialistischer oder religiöser Schmerzensmann, dazu wollten die Slapstickszenen in seinen Romanen nicht so recht passen, und man ließ sie daher gerne unter den Tisch fallen. Spätestens seit den Neunzigerjahren hat sich das Bild jedoch nachhaltig aufgehellt. Immer mehr Leser nehmen wahr, dass die große Mehrzahl von Kafkas Texten offene oder versteckte komische Momente enthalten, und durchblättert man den gesamten Nachlass, so zeigt sich eine große Bandbreite des komischen Erzählens, darunter auch vielfältige Überlagerungen von Tragik und Komik. Hier gibt es noch viel zu entdecken – wobei allerdings die Frage, ob auch Kafkas Komik interkulturell verstanden wird und ›wirkt‹, je nach Publikum wohl unterschiedlich beantwortet wird. Auch dies eine Spielwiese für Experimente, die bislang noch wenig genutzt wurde.

Kafka und seine Briefe

Noch uneinig sind sich Wissenschaft und breite Leserschaft darüber, ob auch die etwa 1.500 überlieferten Briefe von Kafkas Hand seinem literarischen Nachlass zuzurechnen sind. Zu ungewöhnlich ist die Situation, dass ein Autor auch in seinen privatesten Mitteilungen sich auf einer Höhe sprachlicher Ausdruckskraft und Erfindungsreichtums bewegt, die denen seiner Werke in nichts nachsteht. Im Herbst 2024 wird bei S. Fischer der lange erwartete letzte Band der Kritischen Briefedition erscheinen, dann wird auch dieses Segment vollständig erschlossen sein. Lesungen und andere Veranstaltungen zum Briefwerk könnten dazu beitragen, auch weniger erfahrene Leser an Kafkas Sprache, an das für ihn charakteristische bildhafte Denken wie auch an seinen Sinn für Komik heranzuführen.

Kafka auf der Bühne

Wir lesen Kafka heute „literarischer“ als frühere Generationen. Das heißt, der ästhetische Genuss an seiner Sprache, an seinen Einfällen, Paradoxien, verblüffenden Bildern und Plots spielt eine immer größere Rolle gegenüber dem Impuls, sogleich nach der richtigen Interpretation zu suchen. Es ist nur konsequent, dass diese Entwicklung Kafkas Werke für immer weitere kreative Zugänge, ja für eine geradezu kaleidoskopische Rezeption geöffnet hat. An erster Stelle ist hier das Theater zu nennen. Obwohl Kafka kein einziges Bühnenwerk verfasst hat (mit seinem Gruftwächter kam er über die ersten Szenen nicht hinaus), sind seine Texte auf Bühnen ständig zu hören, seine Plots und Figuren wurden visualisiert in Hunderten von Variationen. Andreas Kriegenburg präsentierte 2015 eine beispielhafte Inszenierung auf der Textbasis von Kafkas Nachlass (Ein Käfig ging einen Vogel suchen, Deutsches Theater Berlin). Ebenfalls 2015 bearbeitete der Schauspieler Max Simonischek die Erzählung Der Bau erfolgreich als Ein-Personen-Stück. Die Kafka Band mit dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš als Frontmann komponierte Songs mit Texten aus Kafkas Romanen und integrierte dieses musikalische Material wiederum in Theaterinszenierungen (Das Schloss 2015, Amerika 2017, Der Process 2022).

Kafka auf der Leinwand

Filmische Visualisierungen von Kafkas Texten können bislang noch nicht eine solche Bandbreite aufweisen, nachdem sich bereits im 20. Jahrhundert Orson Welles und Steven Soderbergh daran versuchten. Adaptionen im Kurzfilm gibt es jedoch bereits in Fülle, etliche davon sind auf Youtube zu sehen. Auch das Virtual-Reality-Experiment VRwandlung (Goethe-Institut Tschechien, 2018) wurde weltweit beachtet. Für das Kafka-Gedenkjahr 2024 sind eine ganze Reihe von filmischen Projekten in Planung, darunter ein Biopic der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland sowie eine sechsteilige deutschsprachige TV-Serie, in der ebenfalls Leben und Werk überblendet werden (Drehbuch: Daniel Kehlmann, Regie: David Schalko).

Kafka im Comic

Eine besondere Vorliebe für Kafka haben mittlerweile auch Zeichner von Graphic Novels entwickelt. Seit dem inzwischen klassischen Introducing Kafka von Robert Crumb (1993) gibt es weltweit zahlreiche neuere derartige Visualisierungen, die längst genügend Material für eine eigene Ausstellung bieten würden. Herausragend ist unter anderen Zámek / Das Schloss von Jaromír Švejdík (2013); zuletzt erschienen Die Aeroplane in Brescia von Moritz von Wolzogen. Die Tatsache, dass eine neue, spektakuläre Edition nun auch Kafka als Zeichner etabliert hat (C.H. Beck Verlag, 2021), könnte diesen Trend noch verstärken.

Kafka als Pop-Ikone

All diese Aktivitäten sind überzeugende Indizien dafür, dass Kafkas Werk seine Vitalität bewahrt hat, dass es als höchst relevant für unsere Zeit gesehen wird und dass es darüber hinaus literarisch „genießbar“ bleibt im buchstäblichen Sinn. Es gibt einen weltweit breiten Strom der Rezeption, den man aufgrund seiner Reichweite bereits als popkulturell bezeichnen kann und der sich vom literaturwissenschaftlichen Diskurs weit entfernt hat. Kafka ist zu einer literarischen Weltfigur geworden, seinen Namen und sein Porträt kennen selbst Menschen, die ihn aufgrund seiner Herkunft noch immer für einen tschechischen Autor halten.

Das birgt selbstverständlich auch die Gefahr der Popularisierung und Trivialisierung, sogar der Kommerzialisierung, die ja im Umfeld von Gedenktagen immer besonders virulent ist. Man könnte das abtun mit dem Argument, dass Kafkas Werk doch auch den jahrzehntelangen Dauerbeschuss durch religiöse, philosophische, politische und psychologische Deutungen gut überstanden hat und sich daher auch gegen eine popkulturelle Vereinnahmung sicherlich behaupten wird – was ein wenig zynisch klingt und überdies die heute millionenfach gesteigerte Wirksamkeit falscher Bilder deutlich unterschätzt.

Kafkas Universum gründet in seiner Sprache

Im Hinblick auf die vielfältigen Aktivitäten im Jahr 2024 sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, dass Kafkas Universum – so reich an Bildern und so vielgestaltig es uns mittlerweile auch erscheint – letztlich in seiner Sprache gründet. Die sprachliche Form seines Werks ist das Fundament, das auch unter dem Zugriff anderer Medien möglichst unversehrt bleiben und nicht zugunsten von gesteigerten Effekten manipuliert werden sollte. Der Literaturwissenschaft und nicht zuletzt der Editionswissenschaft kommt daher auch weiterhin eine Wächterfunktion zu: Sie sind es, die Kafkas Manuskriptblätter erschließen, präsentieren, erklären. Aber auch den Übersetzern von Kafkas Werken sollten wir im 21. Jahrhundert aufmerksamer zuhören und ihnen Gelegenheiten bieten, miteinander und auch mit den Lesern ins Gespräch zu kommen – zum einen wegen der globalen Rezeption dieser Werke, zum anderen, weil Übersetzer nahe an der sprachlichen Feinstruktur arbeiten und daher helfen können, Missverständnisse, Entstellungen oder irreführende Vereinfachungen und Popularisierungen zu vermeiden.

Welche Folgen es hätte, würden wir uns von diesem sprachlichen Fundament entkoppeln, hat Kafka selbst in einem seiner Aphorismen präzise vorhergesagt: „Er frisst den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf.“

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