Deutscher Buchpreis 2024
Wölfe, Winnetou und Internetbetrüger
Am 14. Oktober 2024 öffnete der Frankfurter Römer, das historische Rathaus in Frankfurt am Main, wie jedes Jahr um diese Zeit seine Türen für ein großes literarisches Fest. Der Deutsche Buchpreis, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen, die deutschsprachige Autor*innen erhalten können, wurde hier (zum 20. Mal) verliehen. Das Siegerbuch ist bekannt: Hey, guten Morgen, wie geht es dir? von Martina Hefter. Doch mit wem stand es im Finale? Und mit wem auf der Liste der bemerkenswertesten literarischen Werke des Jahres?
Von Tomáš Moravec
Hey, guten Morgen
Zunächst also zur Gewinnerin: Martina Hefter (*1965 Pfronten, Bayern), ist eine etablierte Schriftstellerin, Lyrikerin und Performerin. In ihren Werken verbindet sie oft Text mit Tanz und Bewegung. Bei der Lektüre des neuen Buches der Autorin hat man allerdings nicht wirklich Lust zu tanzen, obwohl es sich nicht um ein pessimistisches Werk handelt.
Hey, guten Morgen, wie geht es dir? erzählt die Geschichte von Juno, einer Frau mittleren Alters, die im Internet Kontakt zu Online-Betrügern aufnimmt: einer relativ neuen Art von ‚Heiratsschwindlern aus Nigeria‘, die unter einer angenommenen Identität und mit erfundenen Geschichten versuchen, einsame Frauen emotional zu erpressen und sie um Geld zu bringen. Juno weiß genau, mit wem sie spielt: Die Männer belügen sie, sie belügt sie auch, es ist für beide Seiten ein Spiel, welches Juno erlaubt, der Realität des Alltags zu entkommen. Sie erwartet oder will keinen Märchenprinzen, sie belügt die Männer, die auch sie belügen, um etwas Neues zu erleben. Aber ist es nicht so, dass diejenigen, die andere belügen, am Ende auch sich selbst belügen?
„Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung“, begründet die Jury des Deutschen Buchpreises ihre Entscheidung. Es ist nicht uninteressant, dass Marina Hefter viel mit ihrer literarischen Figur gemeinsam hat: Juno ist genauso alt wie sie, beide leben mit ihren behinderten Ehemännern in Leipzig und haben sogar das gleiche Tattoo auf dem rechten Unterarm (eine Wildbiene). Ob Martina Hefter selbst jemals mit den nigerianischen Betrügern im Internet korrespondiert hat, wurde bei der Preisverleihung nicht verraten.
Vierundsiebzig Völkermorde
Ein starker Anwärter auf den Preis war ein Buch mit dem schlichten Titel Vierundsiebzig. Es handelt vom Völkermord an den Yeziden, oder besser gesagt von Völkermorden: 74 wurden insgesamt gezählt, wobei der Letzte im Jahr 2014 die junge Autorin Ronya Othmann (*1993 in München) dazu bewog, ein Buch zu schreiben, das nicht nur eine literarische Meisterleistung darstellt, sondern auch unser (lies: europäisches) Wissen über die yezidische Gemeinschaft bereichert.
Othmann weiß, wovon sie schreibt: Sie selbst ist deutsch-kurdischer (yezidischer) Herkunft und verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in einem nordsyrischen yezidischen Dorf, das heute nicht mehr existiert. Othmanns Buch überschreitet die Grenzen der persönlichen Perspektive:Es schwelgt nicht in Literatur und es ist auch kein beschreibendes Kompendium der Schrecken, denen die Yeziden ausgesetzt waren und sind. Im Vordergrund steht dabei die Frage: Wie kann man die Grausamkeiten dieser Welt in einer fiktiven Erzählung angemessen und glaubwürdig darstellen, ohne die Opfer erzählerisch auszubeuten?
Die Antwort darauf hat Franz Werfel bereits 1933 in seinem bahnbrechenden Roman Vierzig Tage des Musa Dagh über den Völkermord an den Armeniern ansatzweise gegeben. Ob Rony Othmanns Vierundsiebzig damit verglichen werden wird und ob es diesem Vergleich gerecht wird, bleibt den Meinungen der Leser*innen und Literaturkritiker*innen überlassen: denen von heute und denen der Zukunft.
Die Wölfe auf der Heide
Einen bemerkenswerten Roman, der zu Recht auf der Shortlist - dem Finale - des Deutschen Buchpreises,stand, hat der Ludwigsburger Markus Thielemann (*1992) vorgelegt. Sein Buch Von Norden rollt ein Donner, welches im Jahr 2014 spielt, ist laut Kritik ein „Antiheimat-Roman“.
Tatsächlich offenbart sein Protagonist, der neunzehnjährige Jannes, ein Schafhirte aus der Lüneburger Heide, viele dunkle Aspekte aus der Vergangenheit seines Landes und seiner Familie: Generationenkonflikte und unverarbeitete, kollektiv verschwiegene Traumata, die von völkischen Narrativen aus dem 19. Jahrhundert bis zu psychischen Erkrankungen in Jannes eigener Familie reichen. Eingerahmt wird all dies von einer Geschichte, die überaus spannend, aktuell und kontrovers ist: die Rückkehr der Wölfe in die Lüneburger Heide.
„Markus Thielemann hat einen atmosphärisch dichten und sprachlich kraftvollen Anti-Heimatroman geschrieben, in dem Archaik und Moderne aufeinandertreffen und die Geister der Vergangenheit durch das trügerische Idyll der Lüneburger Heide spuken,“ hieß es bei der Nominierung der Jury. Für den Hauptpreis hat es am Ende zwar nicht gereicht, aber es war sicher nicht das letzte Mal, dass wir von Thielemann hören. Der Absolvent der Philosophie und Geographie an der Universität Osnabrück hatte bereits 2021 mit seinem ersten Roman Zwischen den Kiefern auf sich aufmerksam gemacht, in welchem es ebenfalls um den Konflikt zwischen Natur, Mensch und Moral geht. Ein Thema, das sicher nicht altert.
Winnetou in der Klinik
Einer der großen Namen, der es in die Endrunde geschafft hat, ist Clemens Meyer. Der berühmte Leipziger Autor (hier ist vor allem sein erster Roman Als wir träumten zu nennen) hat im letzten Vierteljahrhundert viele Preise gesammelt, aber der Höchste blieb ihm bisher verwehrt, obwohl er es schon zweimal auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Das erste Mal 2006 mit dem bereits erwähnten ersten Roman, das zweite Mal dieses Jahr mit Die Projektoren.
11 lange Jahre hat Meyer seine Leser*innen auf einen neuen Roman warten lassen. Nun aber werden sie ihm wohl nicht mehr entgehen können. Nicht nur dank seiner unbestreitbaren literarischen Qualitäten, sondern auch dank des Verlages S. Fischer, der in dem Autor offensichtlich auch kommerzielles Potenzial sieht: Denn, ob man nach Dresden, Frankfurt, Limburg an der Lahn oder Stuttgart fährt, Die Projektoren findet man in diesen Monaten mehr oder weniger stapelweise in allen deutschen Buchhandlungen.
Auch dieses Buch wendet sich der Vergangenheit zu und reflektiert über Konflikt, Gewalt und Krieg. Clemens Meyer führt uns durch Leipzig und Belgrad, erzählt von Kameraden aus der DDR und jugoslawischen Partisanen. Eingerahmt wird das Ganze von einem bemerkenswerten kulturellen Phänomen: Winnetou. „Die Deutschen in Jugoslawien, Karl May, internationale Produktion und der zerfallende Traum von Jugoslawien. Das ist großes Kino, das ist große Literatur. Da muss ich ran,“ erzählt Meyer leidenschaftlich von seiner Inspiration.
Und sie war mehr als gut: „Die Projektoren ist ein Roman, der seine Leser*innen fordert, der gezielt überfordert, der überwältigt in seiner Stofffülle," so die Jury: „Meyer erzählt von den Kriegen in Jugoslawien, vom zweiten Weltkrieg, von den Karl-May-Filmen. Beeindruckend ist, welche Verbindungen er herstellt, und das mit einer Vielzahl von Figuren, die immer unterwegs zu sein scheinen, und Geschichten, Abenteuergeschichten, Liebesgeschichten.“, schrieb die Jury und resümierte: “Kurzum: ein literarisches Ereignis.“
Lichtungen aus Rumänien
Iris Wolff (*1977 in Sibiu, Rumänien) entführt ihre Leser*innen in das ehemalige Ostblockland. Die bemerkenswerte Schriftstellerin gehört zu einer jüngeren Generation deutschsprachiger Autor*innen, deren Wurzeln außerhalb des heutigen Deutschlands liegen. Mit ihrem Roman Die Unschärfe der Welt, den sie hier persönlich dem Publikum des Goethe-Instituts vorstellte, erregte sie bereits im Jahr 2020 die Aufmerksamkeit von Kritiker*innen. Er erzählt die bewegende Geschichte einer Familie aus dem Banat, deren Bande so eng ist, dass sie auch über die Grenze hinweg nicht abreißen. Und nun kehrt Wolff mit ihrem neuen, preisgekrönten Buch Lichtungen ins Banat zurück.
Lichtungen erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft, die in der Kindheit begann und Jahrzehnte überdauert hat. Wolff nimmt uns mit auf eine Reise vom sozialistischen Rumänien der 1980er Jahre in die kapitalistische Schweiz: eine Reise, die geprägt ist vom Aufeinanderprallen von Welten, politischen Regimen, universellen Werten, aber auch vom Kontrast zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die Coming-of-Age- und Liebesgeschichte wird mit viel Feingefühl und Subtilität erzählt, wobei die Autorin die Wendepunkte im Leben der Hauptfiguren betont und die Figuren in ganz bestimmten Räumen und Landschaften verankert.
Und schließlich - der Hase
Den Abschluss der sechs Finalisten für den Deutschen Buchpreis bildet ein vermeintlich untypisches Thema: ein Hase. Denn dieser spielt eine der Hauptrollen im Buch Hasenprosa, dem neuesten Werk der deutschen Autorin Maren Kames (*1984 in Überlingen, Baden-Württemberg). 2016 erschien ihr erster Roman Halb Taube halb Pfau, der prompt mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. Mit ihrem zweiten Buch, Luna Luna (2019), wurde sie für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 nominiert, wobei beide Bücher Gegenstand von Hörspielen wurden.
Ihr neuer Roman Hasenprosa kann, wie auch die Jury des Deutschen Buchpreises feststellte, ein bisschen wie die legendäre Alice im Wunderland gesehen werden: auch hier ist der Wegweiser des Mädchens, oder besser gesagt der Frau, ein etwas besserwisserischer Hase. Für die Autorin ist der Hase eine Metapher für die vielen Stimmungen, Emotionen und Temperamente, denen wir auf unserer Reise durch das Leben begegnen. (Im Allgemeinen) vermeidet Maren Kames bewusst den Realismus („Denn darin geht die Fantasie verloren“).
Worum geht es in ihrem Buch also eigentlich? Es geht um die Familie - den Großvater, die Großmütter, den Bruder -, aber das alles wird auf eine ziemlich experimentelle Weise erzählt. Es handelt sich nicht um eine Geschichte im herkömmlichen Sinne, sondern um Gedankenfetzen, innere Monologe und Bilder, die lose mit Themen wie Einsamkeit, Identität, Natur und der Beziehung zum eigenen Körper und der Welt verbunden sind. Der Text ist bisweilen surreal und spielerisch, voller absurder Situationen und unerwarteter Kombinationen. Zweifellos ist er auch sprachlich hervorragend: „Der virtuose Einsatz von Wortspielen, die reiche Bildersprache, der sprühende Sprachwitz und die lakonischen, vollmundigen Wendungen“, so die Jury.
Doch letztendlich ist Marina Hefter am 14. Oktober 2024 die 20. Preisträgerin des Deutschen Buchpreises geworden und reiht sich unter anderem in die Folge von Tonio Schachinger (2023), Kim de l'Horizon (2022) und Antje Ravik Strubel (2021) ein. Die Jury, die aus Tausenden von Neuerscheinungen die zwanzig Halbfinalisten, die sechs Finalisten und schließlich das Siegerbuch des Jahres 2025 auswählen wird, wird im Februar 2025 bekannt gegeben.
Kommentare
Kommentieren