Literarische Residenz in Broumov
Was wir verstanden haben
Die Schriftstellerin Lina Thiede hat von ihrem Aufenthalt in Broumov viele Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse mitgenommen. Zum Beispiel, dass es nicht immer notwendig ist, alles zu verstehen.
Von Lina Thiede
In Tschechien heißt es, sollte jemand unter deinen Beinen fegen, wirst du niemals heiraten. Ein Glück sei ich schon verheiratet, bedeutet die alte Dame mir und zeigt auf meinen Ring, als sie neben und zwischen meinen Füßen die Reste der Kastanie zusammenfegt, die vor dem Haus blüht. Die alte Dame pflegt das alte Haus des Koches, in dem ich für vier Wochen wohne. Sie kommt jeden Montag gegen neun Uhr, fegt, bringt den Müll fort, bezieht die Betten neu, bringt neue Handtücher, neues Klopapier, putzt das Bad. Die Dame spricht kein Deutsch und kein Englisch. Ich spreche kein Tschechisch, ich sage ihr das, sage, nemluvím česky. Um uns zu verständigen, nutzen wir einzelne Wörter, ansonsten Hände und Füße und Online-Übersetzer.
Im Haus finde ich hin und wieder die Ablagerungen meiner Vorgängerinnen. Tee, Haare, Staub, Kleider und Haarspangen. Ansonsten wohnen in diesem Haus nur die Tiere. Am ersten Abend saß im Waschbecken eine große Spinne. Als ich sie erblickte, ging ich rückwärts aus dem Badezimmer hinaus, putzte keine Zähne, legte mich einfach ins Bett.
Jeden Abend, wenn es dunkel wird, kriechen die Asseln und die Silberfische aus den Ritzen zwischen den Fliesen, zwischen den Dielen. Sie machen mir keine Angst. Auch die Maus, die ich nach zwei Wochen zwischen meinen Schuhen antreffe, macht mir keine Angst. Ich gebe ihr Käse und hoffe, sie bleibt. In den ersten Tagen waren auch Ameisen in meinem Zimmer. Zwei habe ich getötet und es dann gelassen. Vielleicht spüren sie, dass ich eine Einsame bin. Die Buchstaben haben wir jedenfalls gemein.
Die alte Dame spricht immer tschechisch, immer ganze Sätze und schaut mich dann an, in der Erwartung, ich müsse verstanden haben. Ich sage dann entweder ano oder schüttele den Kopf oder sage dobrý oder, äh, okay, ich hole mal mein Handy, hole das Handy und wir tippen unsere Worte ein.
Einmal lasse ich die Dame in Google Translate einsprechen, was sie mir sagen will. Ich weiß, sie spricht von meiner Abreise, doch Google erzählt uns etwas vom Mond.
Unangenehm ist das, wenn jemand für dich putzt. Ich fühle mich immer ein wenig schuldig, weiß nicht genau, wieso. Wenn ich Hilfe anbiete, sagt die Dame immer, ne, ne, studieren, und zeigt auf meinen Laptop. Also sitze ich da und versuche zu schreiben, während sie das Haus sauber hält. Ich sage häufig dekuji, lege die Handflächen aneinander und lächle.
Die Dame nickt dann. Wenn sie geht, sagt sie, bye-bye.
Oft versucht sie Small Talk. Während sie fegt, fragt sie, Spaziergang? Und ich nicke und lasse übersetzen, wo ist es schön?
Teplice, empfiehlt sie und deutet auf die Broschüre auf dem Esstisch, auf das Abbild der Felsenstadt, zwanzig Minuten mit dem Bus vom Kloster Broumov entfernt. Krásný, sagt sie. Und hält den Daumen in die Höhe.
An einem Montag frage ich, wollen Sie auch einen Tee?, und deute auf meine Tasse und die Dame sagt, ne, ne, winkt mich mit sich, ins Bad, zur Waschmaschine. Sie klopft darauf, sagt etwas dazu. Vielleicht hat sie gesagt, nein, danke, ich wasche zuhause. Weil ich nicht weiß, was ich antworten soll, sage ich, ah, okay, lächle und nicke.
Ich versuche mich an einem Wanderweg, der jedoch kurz vor den Bergen abrupt enden muss. Drei Hunde stellen sich mir in den Weg. Sie bellen, kommen immer näher, drängen mich langsam zurück und lassen mich nicht an dem Haus vorbei, neben dem der Weg verläuft. Ich berichte das der Dame. Tippe in den Übersetzer, dass da Hunde waren, zeige ihr den Ort auf der Karte und frage, ob es einen anderen Weg nach oben gibt.
Jo, jo, sagt sie und erklärt, dass ich am Restaurant vorbei gehen solle. Sie nennt nacheinander verschiedene Punkte im Ort, um mir den Weg zu beschreiben. Kloster, Penny, Krankenhaus, Marienkirche, Křinice, Restaurace Amerika. Den Nachbarort kenne ich. Amerika verstehe ich, googele ich. Da solle ich vorbeigehen, sagt sie. Und das Essen sei gut, sagen ihre Hände und ihr Mund.
In der ersten Woche ist das Wetter so gut, als wäre ich im Italienurlaub, nicht im Norden Tschechiens. Ich habe zu dicke Klamotten dabei, dafür aber Sonnencreme. In der zweiten Woche ändert sich das Wetter. Ein Gewitter kriecht heran, hängt lange in der Ferne, an den Bergen, bevor es auf Broumov und das Kloster trifft.
Als das Gewitter über dem Klostergelände grollt, setzt meine Periode ein. Überdramatisch, finde ich und gehe ins Bad. Halte dabei immer Ausschau nach der Spinne.
Für die Rückreise nach Köln hat meine Mutter vorgeschlagen, sie könne mich abholen. Ein langes Wochenende liegt vor meinem Abreisetag. Sie könnte kommen, ich ihr die Gegend zeigen und sie mich mit nach Deutschland nehmen.
Eine hervorragende Idee, finde ich und sage im Kloster Bescheid.
Die Dame hat auch davon erfahren und fragt am kommenden Montag, ob meine Muttr in der anderen Betthälfte schlafe. Ich sage, ja, genau. Die Dame findet das toll. Immer, wenn sie Mutter sagt, verschluckt sie das e, sodass es klingt wir Muttr. Sie erzählt, dass sie spazieren gewesen sei, wo ich spazieren gewesen sei. Babička, sagt sie. Als ich nicht verstehe, erklärt sie, Muttr, macht eine weite Handbewegung und wiederholt, Muttr. Mutter der Mutter.
Ah, Großmutter, erwidere ich, vermute, dass sie mit ihren Enkeln spazieren war, weil ihre Großmutter mit Sicherheit nicht mehr lebt. Vielleicht war sie aber auch früher dort mit ihrer Großmutter spazieren. Wir stehen lächelnd in der Küche. Und mir fällt auf, dass ich ihren Namen gar nicht kenne. Dass wir uns einander nie vorgestellt haben, weil ich gar nicht wusste, wie das auf Tschechisch geht und sie sofort von Besen und Heiraten gesprochen hat.
Schafe ziehen auf die Wiese neben dem Haus. Es seien fünf, bedeutet mir die Dame. Ich zähle nach und sage, da sind sechs.
Mäh, ruft die Dame aus dem Fenster. Die Schafe antworten nicht, grasen, beißen auch in die Brennnesseln, aber wir, wir lachen uns an.
Abends läuft der ESC. Ich muss über den YouTube-Livestream schauen, weil ich aus dem Ausland nicht auf den Livestream der ARD zugreifen kann. Es ist sehr still in diesem Livestream, weil es keinen Kommentator gibt. Peter Urban fehlt. Aber der fehlt seit diesem Jahr auch in Deutschland. Oma und ich schicken uns Bewertungen der einzelnen Beiträge per WhatsApp. Oma probiert eine Menge neuer Smileys aus. Der Deutsche belegt nicht den letzten Platz. Fast so gut wie ein Sieg. Da sind sich alle einig.
Johannes erzählt mir, er gehe die Aurora suchen in der Nacht. Ich gehe mit, habe seine Stimme im Ohr, während ich in den Himmel starre. Ich finde keine Aurora, dafür ein Flugzeug und zwei Satelliten. Aber romantisch ist es trotzdem auf dem Klostergelände in der Dunkelheit und mit Johannes ganz nah.
Bevor ich abgefahren bin, hat meine Mutter mich vor Wölfen und Bären gewarnt. Aber das Internet sagt, hier gibt es keine Bären. Auch die alte Dame sagt, hier gebe es keine Bären. Wölfe ja, aber keine Bären. Das Internet sagt außerdem, die Frauen würden sich derzeit darüber Gedanken machen, wem sie lieber allein im Wald gegenüberstehen würden. Mann oder Bär?
Ich googele, was ich machen muss, sollte ich einem Bären begegnen. Ruhig bleiben, nicht wegrennen, im Ernstfall hinlegen und Nacken schützen. Was tut man, wenn man einen Mann trifft? Keine Ahnung, kommt wirklich drauf an, welcher Mann. Hier würden wahrscheinlich weder Bär noch Mann und ich eine gemeinsame Sprache sprechen. Ich bleibe daher ein paar Tage zuhause. Doch das hält nicht lange an. Die Aussicht lockt.
Ob ich im nächsten Jahr wiederkäme, fragt die alte Dame. Erst verstehe ich nicht, muss sie 2025 auf ihre Handfläche zeichnen. Ah. Ich zucke mit den Schultern und sage, hoffentlich. Sie lächelt, nimmt ihren Rucksack, den Korb mit der Wäsche und winkt zum Abschied. Ich winke zurück. Als ich hineingehe und die rote Tür hinter mir schließe, frage ich mich, was wir verstanden haben.
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