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Literarische Residenz in Broumov
Wann das genau gewesen ist

Die deutsche Schriftstellerin Lina Thiede (rechts) und die tschechische Mitstipendiatin, die Schriftstellerin Bára Bažantová, vor dem Kloster Broumov.
Die deutsche Schriftstellerin Lina Thiede (rechts) und die tschechische Mitstipendiatin, die Schriftstellerin Bára Bažantová, vor dem Kloster Broumov. | © Václav Horký

Die beruhigende Natur, die komplexe Geschichte der Grenzregion, aber auch eine Konservendose: Ein kreativer Aufenthalt in Broumov brachte Lina Thiede auch dazu, über das Schicksal ihrer eigenen Familie nachzudenken.

Von Lina Thiede

Vor dem Friedhof steht in deutscher Sprache, jeder der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit. Man vergisst leicht, dass das hier einmal deutschsprachiges Gebiet war. Auf dem Friedhof jedoch besteht die Vergangenheit und steht mehrmals auf Grabsteinen, hier ruhet in Frieden. Ich sehe deutsche Nachnamen, unter anderem den Namen Scholz. Und dann höre ich deutsche Gesprächsfetzen. Schade, da sind wir wohl zu früh dran. Erst ab Juni kann man rein. Ich gehe um die Kirche herum, sehe ein altes Ehepaar und sage höflich, hallo.

Wenn ich frage, wie das damals war, was unsere Familie durchgemacht hat im Krieg, dann wissen meine Eltern das, was ihnen erzählt wurde und auch Oma weiß das, was ihr erzählt wurde. Dass ihr Kindermädchen damals aus Schlesien flüchtete, zum Beispiel. Das erzählt Oma oft. Aber Oma weiß davon nicht mehr viel. Sie war vier Jahre alt. Oma kann nicht sagen, was Lotte dabeihatte, als sie eintraf, ob sie überhaupt etwas dabeihatte.

Auf einem Leiterwagen kamen sie an, sagt sie. Damals. Dieses Wort nutzt Oma nur für etwas, das lange zurückliegt und sich nicht mehr eindeutig in Jahreszahlen einordnen lässt. Damals muss also 1945 gewesen sein, denn da war Oma vier.

Was für Oma ein blinder Fleck ist, war für den Mann, den ich an der Marienkirche treffe, ein Albtraum. Er komme hier aus der Braunauer Gegend, sagt er. Als er sechs Jahre alt war, habe seine Familie fliehen müssen. Mit nichts. Es war keine Zeit, was einzupacken. Ohne alles und ganz abgemagert kamen wir in Thüringen an. Das, was die russischen Truppen damals den Deutschen hier angetan haben, darüber redet ja niemand. Ich kann ihm nicht widersprechen. Ich habe bis heute noch nie eine Geschichte wie seine gehört.

Sie können sich ja vorstellen, wie gern die Leute uns in Deutschland aufgenommen haben. Das war nicht anders als heute mit den Flüchtlingen. Er zuckt mit den Schultern. Ich nicke und denke, nicht Sprache, nicht Herkunft machen fremd, sondern der Umstand. Dreizehn Millionen Flüchtlinge, die mussten ja irgendwohin, sagt der Mann.

Oma wuchs in Niedersachsen auf. Zum Arbeiten zog sie freiwillig in den Westerwald. Sie blieb dort und ging nicht nach Südfrankreich, wie sie eigentlich vorgehabt hatte. Wegen Opa.

Meine andere Oma, Papas Mutter, die vor meiner Geburt starb, floh aus Pommern in Polen. Sie muss damals zwei oder drei Jahre alt gewesen sein. Zu Fuß ging ihre Mutter mit den Kindern und einem Bollerwagen los, bis sie Lübben in Brandenburg erreichte. Als ich schaue, wo Pommern liegt, nämlich oben bei Danzig, frage ich verblüfft, zu Fuß?

Zu Fuß, bestätigt Papa. Später floh seine Mutter aus Ostdeutschland in den Westen, wo sie meinen anderen Opa kennenlernte. Nach Hadamar. Diese Stadt liegt über eintausend Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt.

Ich lasse die Kirche hinter mir, spaziere an den Stadtrand, halte mich an die roten Ausschilderungen eines Wanderweges, bin bald von Bäumen umgeben. Ich kann zwischen den Stämmen hindurch ins Tal blicken. Als ich weitergehe, liegen mehrere Bäume umgestürzt. Ich steige über sie hinweg, bleibe auf dem Weg. Er führt mich an einem Privatgrundstück vorbei. Ein kleiner, ordentlicher Holzzaun trennt den Garten vom Wald ab. Ich lasse meine Augen über den gepflegten Rasen wandern. Und dann gehe ich tiefer in den Wald hinein.

Manchmal komme ich durcheinander. Manchmal entsprechen sich die Geschichten von früher. Manchmal entsprechen sich auch die Geschichten, die Mama von meinen Urgroßvätern erzählt.
Ein Uropa starb im Krieg. Beziehungsweise verschwand er nahe der Ostsee. Ein Uropa väterlicherseits wiederum ist gefallen. Papa sagt, das sei ein Euphemismus, er sei ja nicht hingefallen, verreckt sei er an der Ostfront. An der Ostfront war auch Omas Vater. Er fiel nicht. Er wurde in Stalingrad gefangen genommen und kehrte zurück, aber nur zum Teil. Er war einer der sechstausend von ursprünglichen hunderttausend Gefangenen, die es zurückschafften. Ein Stück von seinem Selbst ließ er da und versuchte danach diese Lücke mit Branntwein wieder aufzufüllen. Ähnlich der andere Opa meines Vaters, der im Krieg Fallschirmspringer gewesen war. Ihm wurde das Bein weggeschossen. Das konnte er also auch nicht mit zurücknehmen.

Ich habe nicht viel im Rucksack. Ein Müsliriegel, ein Apfel, eine Wasserflasche, ein Buch. Als ich bemerke, wie schlecht das Netz im Wald ist, ärgere ich mich über mich selbst. Heute Morgen am Telefon sagte Oma noch, wenn du allein in den Wald gehst, dann nimm eine Karte mit. Ich hätte eine Karte mitnehmen sollen. Anscheinend muss ich die Fehler immer selbst machen, bevor ich dazulerne.

Wenn ich frage, wann das denn gewesen sei, das mit Omas Vater, dann sagt Oma, ja, wann war das? Wann kam der Papa zurück? Keine Ahnung. 1945? Es ist schwierig, Jahreszahlen an die Ereignisse zu setzen.

Von Papas Seite lebt kein Großelternteil mehr, das ich fragen könnte, da weiß ich nur, dass alles irgendwann zwischen 1939 und 1945 gewesen sein muss. Irgendwann innerhalb dieser sechs Jahre ist mein Uropa, als einer von sechzig Millionen Menschen, gefallen und der andere Uropa hatte Pech im freien Fall. Kein Wunder, dass niemand sich an Jahreszahlen erinnern will. All diese Zahlen will man nicht begreifen.

Ich pflücke Wildblumen, deren Namen ich mir noch nie merken konnte. Oma kennt sich da besser aus. Ich stelle mir oft vor, dass sie da eine große Box mit Karteikarten im Kopf hat, in der die Namen aller Blumen und Kräuter sicher verstaut sind. Ich mische weiß, gelb, blau, rot, dazwischen Gräser. Neben einem Baumstumpf sehe ich teils überwuchert eine alte Flasche und eine alte Konservendose liegen. Ob da Ravioli drin gewesen sind, überlege ich und dann, immer denke ich, der Frieden schlummere in der Natur. Eigentlich lässt sie nur Gras über alles wachsen.

Papas Vater musste nicht in den Krieg, einer musste sich ja um die Landwirtschaft kümmern. Er blieb also daheim, versorgte den Hof und die Felder, mähte das Gras, hatte Glück im Unglück, systemrelevant zu sein. Doch dann spürte auch er die unangenehmen Seiten des Krieges. Von den zig Bomben, die in den sechs Jahren auf Deutschland abgeworfen wurden, fiel genau eine auf die Heimatstadt meines Vaters. Und diese eine Bombe fiel auf das Haus der Familie in der Steinstraße vier. Die Stadt erlebte nur diese eine Bombe und eine Euthanasie- und Fürsorgeerziehungs-Anstalt. Während die Bombe wohl nicht so viele Opfer zählte, kann die Anstalt in nur vier Jahren mit fünfzehntausend aufwarten. Zweitausend Menschen mehr als heute in der Stadt leben.

Mit den Blumen in der Tasche schlendere ich bergauf, verliere mich zwischen den Bäumen, dem Rauschen, dem Anstieg, verliere bald den Wanderweg aus den Augen. Vergeblich suche ich das Zeichen, das mich aus der Stadt hinausgeführt hat, über die Rapsfelder, durch den Wald und zur kleinen Kapelle auf dem Berg. Ich finde es nicht mehr, finde auch kein Netz, also drehe mich einfach um und gehe denselben Weg, den ich gekommen bin. Ich kenne keinen anderen. Ich gehe vorbei an der Flasche, der Dose, dem Hund, den umgestürzten Bäumen, weiter bergab und lasse alles so, wie ich es vorgefunden habe.

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