Auf Spurensuche in Nordböhmen
Flucht nach Ägypten
Lobendava und Mimoň, Mnichovo Hradištĕ und Královec – das sind Orte in Nordböhmen, die nicht zu den touristischen Höhepunkten des Landes gehören. Eine deutsch-tschechische Gruppe hat sich dennoch auf den Weg gemacht, sie und andere zu entdecken: Per Fahrrad haben sie sich auf die Flucht nach Ägypten begeben, die der deutschböhmische Schriftsteller Otfried Preußler in seinem gleichnamigen Roman ins Königreich Böhmen verlegt hat.
Von Corinna Anton
Die Reise beginnt in Dolní Poustevna. Der Grenzort liegt etwa 50 Kilometer östlich von Dresden und ist in der deutschen Nachbargemeinde Sebnitz als „Niedereinsiedel“ ausgeschildert. In einer Pension treffen sich Menschen im Alter von 16 bis über 80 Jahren, die hauptsächlich aus Deutschland und Tschechien kommen und Interesse am Nachbarland haben. Sie werden sich eine Woche lang mit dem Fahrrad auf „Spurensuche“ begeben und dabei gleich zwei neue Welten entdecken: Die eine besteht aus Landschaften, Menschen und Dörfern entlang der rund 250 Kilometer langen Strecke.
Die andere Welt ist die literarisch-historische, die Otfried Preußler in seinem Roman beschrieben hat. Der deutschböhmische Autor ist 1923 in Liberec geboren und in Deutschland vor allem durch Kinder- und Jugendbücher wie Räuber Hotzenplotz, Krabat oder Das kleine Gespenst bekannt. Die Flucht nach Ägypten, die den Untertitel Königlich böhmischer Teil trägt, ist jedoch ein Buch für Erwachsene. Preußler lässt die Heilige Familie darin durch den nordböhmischen Teil der k.u.k.-Monarchie vor König Herodes fliehen – durch Preußlers Heimat, in die er nach der Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft im Jahr 1949 nicht mehr zurückkehren konnte. Die Geschichten aber, die er vor allem von seiner Großmutter Dora kannte sowie von seinem Vater, der als Heimatforscher Sagen und Legenden aus der Region gesammelt hatte, bewahrte der Schriftsteller auf und verarbeitete sie in seinen Büchern.
„Viele Motive bei Preußler stammen eindeutig aus Böhmen“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Kateřina Kovačková. Sie forscht über deutschböhmische Literatur und hat eine Magisterarbeit über Preußlers Flucht nach Ägypten geschrieben. Von der Idee, die Route mit dem Fahrrad nachzufahren, war sie so begeistert, dass sie sich der „Spurensuche“ anschloss. Preußlers Literatur ist für Kovačková „deutsch geschriebene Literatur aus Böhmen“. Mit der sogenannten Heimatliteratur sei das aber nicht zu verwechseln, erklärt der Leiter von Antikomplex und Organisator der Spurensuche Ondřej Matějka: „Es geht bei Preußler nicht um Heimat im politisch manipulierten, sondern im erlebten Sinn.“ Bis heute werde der Heimatbegriff missbraucht, meint der Historiker Matějka – nicht jedoch bei Preußler.
In umgekehrter Richtung
Das heißt allerdings nicht, dass Heimat und Vertreibung kein Thema in Preußlers Roman sind. Im Gegenteil: Die Flucht der Heiligen Familie mit der Vertreibung der Sudetendeutschen in Verbindung zu bringen liegt nahe. Teilweise bewegen sich Maria und Josef im Roman genau auf den Wegen, auf denen später in umgekehrter Richtung die Deutschen das Land verlassen mussten. Außerdem schreibt Preußler beispielsweise am Ende eines Kapitels, in dem eine junge Frau zwei alte Menschen aus deren Haus vertreibt:„Und doch steht zu hoffen, dass ihr der Herrgott in seiner unermesslichen Güte vergeben hat – wie er allen vergeben wolle, die je einen Menschen um Haus und Heimat gebracht haben, sei es in Glasersdorf, sei es anderswo im Königreich Böhmen und anderwärts.“