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E. T. A. Hoffmann
Durch das Reich der Träume

Dream
Foto (Ausschnitt): © Unsplash

Die verschiedensten Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleinen Flecken, auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets, und ich mußte mir gestehen, daß der Anblick zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, ja wohl gar aufgereizten Personen einen kleinen Schwindel verursachen könne, der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahenden Traums gliche.

Von Richard Guniš

Meine in Deutschland lebende Nichte erzählte mir, dass sie in der Schule E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi lesen mussten. Auf meine begeisterte Frage, wie sie ihr gefiel, kam die Antwort, sie habe in ihrem Leben nichts Langweiligeres gelesen. Ich musste mir auf die Zunge beißen und stammelte verständnisvoll. Seitdem geht mir die Frage durch den Kopf: „Ja, warum denn sollte man E. T. A. Hoffmann lesen?“ Ich will versuchen, diese Frage anhand zweier Werke zu beantworten.

Ritter Gluck, erschienen im Jahre 1809, steht am Anfang von Hoffmanns Schaffen. Ein Erzähler trifft in einem Berliner Café auf einen besonderen Charakter und nachdem sie sich mehrmals trennen und wiedertreffen, gibt er sich dramatisch als Ritter Gluck – d.h. der Komponist Christoph Willibald Gluck – zu erkennen. Die Erzählung endet abrupt, keine weitere Erklärung. Dazwischen Gespräche über den Zauber der Musik und der Kunst, gekleidet in eine an blumigen Metaphern reiche Sprache.

Ich habe mir den Anfang der Erzählung immer wieder als ein Gemälde aus der Vogelperspektive vorgestellt: Wir befinden uns in Berlin, Spätherbst 1809. Eine Menschenmasse aus verschiedenen sozialen Klassen spaziert zwischen Unter den Linden und dem Tiergarten. Hier geht das Gemälde in einem Film über, wir zoomen näher an eins der Cafés, besser gesagt an die paar Gartenstühle und runden Tische vor dem Café, an die sich dicht die spazierende Masse schmiegt. Wir zoomen noch näher, an einen dieser Stühle und Tische, an einen Mann, wir hören jetzt auch die Gespräche und Musik, ein kleines Musikensemble spielt für die Cafégäste Unterhaltungsmusik. Wir zoomen ganz nah an das Gesicht des Mannes, an seine geschlossenen Augen, die sich auftun, wir weichen wieder zurück und merken plötzlich, dass inzwischen noch jemand anderes am Tisch sitzt, wo vorher niemand war. Die zwei Gäste wirken seltsam steinern vor dem Hintergrund der Menschen, die so dicht an dicht spazieren, dass wir nur einen beweglichen Knäuel an Armen, Beinen, Köpfen und Hüten ausmachen können. Dann beginnen sie zu sprechen.

Hier endete für mich die Erzählung. Nicht dass ich aufgehört hätte zu lesen, dafür war die Neugierde zu groß, doch blieb mir immer dieses Bild vor Augen. Das Bild dieser zwei Männer am Tisch und hinter ihnen diese bewegte Kulisse an Menschen.

Alles verraten im ersten Absatz, sogar zweimal: „…da setze ich mich hin, dem leichten Spiel meiner Phantasie mich überlassend, die mir befreundete Gestalten zuführt, mit denen ich über Wissenschaft, über Kunst, über alles, was dem Menschen am teuersten sein soll, spreche.“ Und gleich im nächsten Satz: „Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich, nichts kann meine phantastische Gesellschaft verscheuchen.“ Zweimal nichts, das ist schon mal ein klares Statement. Nichts kann die phantastische Gesellschaft verscheuchen, nicht einmal die Großstadtmasse Berlins. Nichts kann das Reich der Träume verscheuchen, doch wie wir wissen, ist dieses Reich von verschiedenen Kreaturen bewohnt. Zweimal muss sich Ritter Gluck in seiner Beschreibung unterbrechen, weil die Begeisterung und das tiefe Wühlen im Traumreich in Depression und Flucht endet. Das alles, das Zusammentreffen, Aufbrechen, Flucht, wiederholtes Treffen, wiederholte Flucht, wiederholtes Treffen, geschieht aber am unbeweglichen Cafétisch, im Erzähler, an dem die Stadt vorbeizieht.

Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster erschien im Jahre 1822, zwei Monate vor Hoffmanns Tod. Der Erzähler trifft sich hier mit seinem Vetter, der von seinem Fenster aus den Markt beobachtet. Die beiden Charaktere im Fensterrahmen bilden sozusagen die Rahmenhandlung, die eigentliche Handlung besorgt das Markttreiben. Es ist ein dialogischer Text, aber im Gegensatz zum Ritter Gluck findet hier wirklich ein Dialog statt, sodass wir uns fast wie in einem Konversationsstück im Theater befinden. Weit entfernt von dem gehetzten und meist eintönigen Gespräch in Ritter Gluck, in dem die titelgebende Gestalt meistens das Wort hält, bevor sie es fallen lässt und flieht. In Des Vetters Eckfenster kann von Flucht keine Rede sein, der Vetter ist nämlich durch eine Krankheit immobil.

Während wir uns aber im Ritter Gluck an den am Cafétisch sitzenden Erzähler annähern, um bei ihm und seiner phantastischen Gesellschaft zu verweilen, nähern wir uns im Des Vetters Eckfenster zusammen mit dem Erzähler seinem Vetter. Der Erzähler schält sich am Markttag aus der Masse an Menschen heraus, um zusammen mit dem Vetter wieder auf diese Masse zu blicken.

Während im Ritter Gluck die vorbeiziehende Masse als Kulisse für die Erzählung diente, ist diese Masse hier die Erzählung. Das Knäuel an Beinen, Händen, Hüten und Kleidern teilt sich in Individuen.

Während sich der Erzähler im Ritter Gluck durch seine phantastische Gesellschaft von der umgebenden Gesellschaft abschottet, ohne aber auf den Komfort eines Großstadtlebens zu verzichten, lernt er in Des Vetters Eckfenster durch den Umgang mit seinem kranken Vetter neu auf die Gesellschaft zu blicken. Und der Vetter, der diese Art der Betrachtung auch lernen musste, ist durch dieses neuerworbene Wissen und die Möglichkeit, dieses Wissen zu vermitteln, belebt. Man kann sagen, er ist unter die Lebenden zurückgekehrt. Es geht etwas zutiefst Vitales von diesen zwei Figuren in Des Vetters Eckfenster aus.

Wer wagt, durch das Reich der Träume zu schreiten, gelangt zur Wahrheit.

Das Wagnis, durch das Reich der Träume zu schreiten, ist allen Figuren Hoffmanns gleich. Der Vetter bildet da keine Ausnahme. Im Auszug sagt ihm der Erzähler, dass wahrscheinlich das nicht unangenehme Delirieren eines nahenden Traumes der Grund ist, weswegen ihn der Anblick des Markttreibens so fesselt. Das entspräche dem Treiben im Ritter Gluck, wo die spazierende Berliner Masse nur den Grundton für die phantastische Improvisation abgibt, die sich zwischen den zwei Figuren abspielt.

Die geheimnisvolle Figur im Ritter Gluck scheint im Reich der Träume gefangen zu sein und muss das öde Berlin wiederholt durchschreiten und nach verträumten Gestalten in Cafés suchen, an denen sie sich festzapft. Der Erzähler beschwört diese phantastische Gesellschaft und darf sich daher nicht wundern, wieso er wiederholt auf sie trifft.

Der Vetter wiederrum kann, wegen seiner Krankheit, gar nicht anders als sich in seinem Zimmer der phantastischen Gesellschaft hinzugeben. Diese aber erfüllt ihn nicht.

Die Gesellschaft, die für den Erzähler im Ritter Gluck zum Anfassen nah war, ist für den Vetter unerreichbar geworden. Er kann sie nur aus der Ferne beobachten.

Das wahre Wunder ist aber, diesen Genuss mit jemandem zu teilen. Da kommt der Erzähler in Des Vetters Eckfenster ins Spiel. Anders als das monotone Selbstgespräch im Ritter Gluck, ist das Gespräch zwischen Erzähler und Vetter spielerisch. Das Durchschreiten des Reichs der Träume endet in Sackgassen, räumlich wie auch sprachlich, der Markt ist demokratisch, bunt, offen nach allen Seiten wie auch für alle Themen. Er ist nicht nur mit Waren voll, sondern auch mit Menschensprache.

Was ist also die Wahrheit, zu der man durch das Reich der Träume schreitet? Es ist das phantastischste von allem: die Realität.

Warum sollte man E. T. A. Hoffmann lesen? Ich konnte damals meine Nichte näher in den Kosmos Hoffmanns einbeziehen, die Horrorstellen im Werk in den Vordergrund stellen, denn sie war gerade in dem Alter, wo man sich gerne Horrorfilme anschaut. Ich tat es aber nicht. Könnte man aber ein Symbol auswählen, das das ganze Hoffmannsche Werk beschreibt, so wäre es das Auge. Perfekt rund, mit der einen Seite immer im Dunkeln, die andere dem Licht zugetan. Hoffmanns Texte sind ähnlich, Licht und Dunkelheit wechseln sich im schnellen Tempo ab, Tag und Nacht, Innen und Außen. Wir müssen nur lernen zu schauen.

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