mündliche Überlieferung
Indisches Schattenpuppentheater
Traditionelle darstellende Kunstformen sind in Indiens Kulturgeschichte, sozialen Praktiken und sprachlichen Kontexten fest verwurzelt. Eine dieser Formen ist das Schattenpuppentheater, das dadurch geprägt ist, dass die Geschichten innerhalb der Familie oder Verwandtschaft seit einigen hundert oder sogar einigen tausend Jahren von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.
Von Anurupa Roy
Es gibt eine alte griechische Geschichte, in der die Götter darüber diskutierten, wo sie das größte Geheimnis des Lebens, die höchste Weisheit, verstecken sollten. Einige schlugen den höchsten Berg vor, andere argumentierten, dass die Menschen diesen schließlich erklimmen würden; einige schlugen dann den tiefsten Ozean vor, aber auch das wurde abgelehnt. Letztendlich würden die Menschen auch dorthin gelangen. Schließlich beschlossen die Götter, die Weisheit vor aller Augen zu verstecken, nämlich im Geist der Menschen selbst – in ihren Träumen. Ich glaube, dass die Götter diese Weisheit auch in epischen Erzählungen versteckt haben.
Die südlichen Bundesstaaten Kerala, Karnataka, Tamil Nadu und Andhra Pradesh und der östliche Bundesstaat Orissa haben ihre eigenen Arten des Schattenpuppenspiels.
Anurupa Roy
Das traditionelle Puppentheater ist geprägt durch solche Erzählungen, die innerhalb der Familie oder Verwandtschaft über hunderte oder gar tausende von Jahren von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Jede Generation fügt dann etwas Eigenes hinzu und gibt es weiter, destilliert und verfeinert es und passt es wechselnden Publikumsgruppen und Auftraggebern an. Somit ist Tradition ein sich ständig veränderndes Phänomen und nicht in der Zeit erstarrt. An dem Tag, an dem sie unbeweglich wird, beginnt sie zu sterben.Traditionelle darstellende Kunstformen sind sehr stark in ihrer Kulturgeschichte, ihren sozialen Praktiken und ihren sprachlichen Kontexten verwurzelt. Sie sind vielschichtige und facettenreiche Lebenswelten. Die Evolution des Schattenpuppenspiels und die Rolle des Puppenspielers in Indien ist ein lebendes Zeugnis dieser Vielschichtigkeit.
In Indien gibt es keine einheitliche Form des traditionellen Puppenspiels. Es gibt (nachweislich) 18 lebendige Formen in verschiedenen Teilen Indiens, unter anderem Handschuh-, Stab-, Schnur- und Schattenpuppen. Daneben gibt es mehrere neue Gruppen von Puppenspielern, die keine Generationspuppenspieler sind und mit einer Mischung aus alten und neuen Techniken arbeiten. Sie werden – manchmal etwas umstritten – als “moderne” Puppenspieler bezeichnet. Die Situation der Puppenformen variiert stark von Region zu Region in Indien.
Der wichtigste Aspekt des traditionellen Puppenspiels ist sein erzählerischer Kontext, der tief in den mündlichen Versionen von Epen wie dem Ramayana und dem Mahabharata sowie Geschichten aus den Puranas und regionaler Folklore verwurzelt ist. Diese Erzählungen bestimmen die Art der Aufführung (Dialoge, Stylisierungen in Sprache, Musik und Gesang), die Gestaltung der Puppen (Farbe, Form, Größe, Material), die Ästhetik der Form und ihre Verbindung zum Publikum. Die Geschichte steht also im Mittelpunkt, und die Puppen illustrieren in der Regel die Erzählung. Die Ästhetik gleicht oft der von regionalen Skulpturen, Gemälden und anderen darstellenden Künsten. Diese sind untrennbar miteinander verbunden. Ein traditionelles Publikum ist bereits mit der Geschichte, den Liedern, den Dialogen und sogar den Witzen vertraut. Die Rolle des Puppenspielers war und ist mehr als die eines bloßen Unterhalters. Er ist Schamane, Heiler, Geschichtenerzähler, Weiser, Träger einer kollektiven Geschichte, zeichnet Parallelen zwischen lokaler Politik und Epen, verbindet Philosophie und soziale Realitäten. Sein fundiertes Wissen über mündliche Erzählungen einerseits und soziokulturelle Realitäten andererseits ermöglicht es ihm, den Raum zwischen Publikum und mythischen Figuren zu überbrücken. Meiner Meinung nach steht er als Träger der Erzählung im Mittelpunkt der Aufführung, nicht die Puppen.
Das Mahabharata und das Ramayana werden oft als lineare Texte betrachtet, die von einem einzigen Autor zu einer bestimmten Zeit geschrieben wurden. Tatsächlich wurden die Geschichten aber über mehrere Jahrhunderte weitergegeben und haben verschiedene Autoren, Einfügungen und Versionen. Eine “monolithische” Sichtweise dieser Texte schmälert ihre Tiefe und ihren unvorstellbaren Reichtum. Allein das Ramayana hat 300 Versionen! Die mündlichen Versionen dieser Epen werden durch das Puppenspiel veranschaulicht. Die darstellenden Künste sind ein wichtiges Medium, um diese Sammlung von Weisheit zu vermitteln. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: In den schriftlichen Versionen des Ramayana lesen wir meist von einem einzigen Ravana oder dem zehnköpfigen König von Lanka, aber in den mündlichen Erzählungen hören wir von sechs verschiedenen Ravanas, Dash-kantha, dem zehnköpfigen, Shata-kantha, dem hundertköpfigen Ravana, den beiden Brüdern Mahi Ravana und Ahi Ravana, sowie Chayya Ravana und Maya Ravana als Hologramme des zehnköpfigen Ravana. Selbst die Geschichte des allgemein bekannten zehnköpfigen Ravana hat in jeder Version eine andere Vorgeschichte.
Schattenpuppentheater in Karnataka
In Karnataka haben die Schatten des Puppenspiels (Togalu Gombeyata) lebhafte Farben, traditionellerweise schwarz, rot und weiß. Es gibt drei Arten von Puppen in der Schattenform: die zusammengesetzten Bildpuppen (Jamgat Bavli), bei denen ein Bild oder eine Serie von Bildern eine Geschichte erzählt wie in einem Comic; die Einzelbild- bzw. Figurenpuppen (Ikpat Bavli), die keine Gelenke haben; und die Einzelfigurenpuppen mit Gelenken (Haathpheruthali Bavli). Die Puppenspieler gehören der Gemeinschaft der Sillakayata an, ursprünglich ein Jäger-und-Sammler-Volk, das Schattenpuppen aus Leder herstellte und damit Vorstellungen gab. In ihren Geschichten treten sie als der Clown “Sillakayata” auf und leiten ihren mythischen Ursprung auf die königlichen Wächter von Rama zurück. Die Geschichte besagt, dass Surpanakha, die Schwester des besiegten Königs Ravana, verkleidet zu Sita kommt und darum bittet, sie als Dienstmädchen anzustellen. Sita stellt sie an, und mit der Zeit kommt Surpanakha der Königin näher, indem sie ihr Geschichten erzählt. Eines Tages fragt sie Sita, ob sie sich an Ravana erinnere, und Sita antwortet, sie habe Ravana nie gesehen. Surpanakha bleibt hartnäckig: “Oh Königin, du musst ihn doch einmal gesehen haben? Hat er dich nicht jeden Tag besucht? Wie kannst du ihn nie gesehen haben?” Sita gibt schließlich nach und sagt, dass sie einmal seinen Zeh gesehen habe. Auf Surpanakhas Drängen hin zeichnet Sita diesen Zeh aus dem Gedächtnis auf ein großes Blatt Papier. Surpanakha, eine erfahrene Zauberin, zeichnet den Rest ihres Bruders und erweckt ihn zum Leben. Dies ist Chhaya Ravana, ein Schatten-Ravana, der seinen Tod rächen will. Deshalb versteckt er sich unter dem Bett. Als Ram in sein Schlafgemach zurückkehrt, um sich auszuruhen, springt Ravana hervor, um sich zu rächen, aber die Wachen bekämpfen und überwältigen ihn. Daraufhin wird er in kleine Stücke zerschnitten und als Puppe zusammengenäht. Auf diese Weise entstanden die Schattenpuppen.Schattenpuppentheater in Tamil Nadu
In Tamil Nadu werden die undurchsichtigen Schattenpuppen, Thol Bommalata genannt, größer und bunter. “Thol” bedeutet Schatten, “bomba” oder “gomba” bedeutet Puppe und “latam” bedeutet Tanz, also wörtlich übersetzt “Schatten-Puppen-Tanz”. Die Puppen sind üblicherweise einzelne Figuren und ein Puppenspieler spielt alle Puppen, indem er seine Stimme für alle Figuren ändert, singt und mehrere Instrumente spielt. Manchmal wird er auch von einem Harmoniumspieler unterstützt und er kann einen Assistenten haben, der ihm die Puppen reicht. In einer durchschnittlichen Vorstellung sind mehr als zwei Puppen gleichzeitig auf der Bühne, so dass die Vorstellungen durch schnelle Wechsel gekennzeichnet sind. Tier- und zahlreiche Gauklerfiguren sorgen für sehr zeitgemäße und unterhaltsame Vorstellungen.Schattenpuppentheater in Andhra Pradesh
Die Tolu Bommalatam in Andhra Pradesh ähneln ihren Tamilischen Verwandten, außer dass sie die größten Schattenpuppen in der Familie sind. Die Dämonin Lankini, die die Insel Lanka bewacht, kann vier Meter groß sein! Die meisten Puppen sind zwischen 1,5 und 2,5 Meter groß, und ein Puppenspieler spielt jeweils eine Figur. Die Puppen haben viele Gelenke, so dass sich ihre Beine, Arme, Köpfe und manchmal sogar ihre Taillen bewegen. Hinter der Bühne, auf einem Holzbrett balancierend, tanzt der Puppenspieler mit seiner Puppe, gibt den Rhythmus vor und sorgt dafür, dass sich die Beine der Puppe bewegen, ohne sie tatsächlich zu berühren. In dieser Version, die auf dem Molla-, Kamba- und Adbhuta-Ramayana basiert, ist die Geschichte von Ahi Ravana und Mahi Ravana zu hören, zwei Brüdern und Klassenkameraden des Königs von Lanka aus Kindertagen. Er bringt sie mit einer List dazu, sich dem Krieg gegen Ram anzuschließen. Sie entführen Ram und Lakshman, und Hanuman muss ihnen in die Unterwelt folgen, um diese zu retten.Shadow Puppetry in Orissa
Das Ravanchayya in Orissa hat – wie in Kerala – nur schwarze und weiße Puppen. Es handelt sich um kleine Puppen, die mit Tricks arbeiten, wie etwa kleine Versionen derselben Figur, um eine weite Entfernung vorzutäuschen, bzw. große Versionen, um Nähe darzustellen. Es basiert auf dem Bichitra Ramayana, das Bishwanath Khuntia für Theatervorstellungen geschrieben hat.Ich hoffe, dass wir in naher Zukunft mehr Anerkennung für diese Kunstform in Indien sehen werden. Ausbildungsmöglichkeiten, bei denen sowohl Generationspuppenspieler aus Familien, die traditionelle Formen praktizieren, als auch neue Künstler mit einem nicht-traditionellen Hintergrund zu qualifizierten Fachleuten in der Kunst des Puppenspiels ausgebildet werden. Kontakt mit Zielgruppen außerhalb des traditionellen Publikums könnte dazu führen, dass die Vorurteile, die diese Kunstform umgeben, stärker hinterfragt werden. Vielleicht wird dadurch das Selbstwertgefühl der Puppenspieler gestärkt und die Kinder von Generationspuppenspielern dazu ermutigt, ihre Kunst weiterhin zu praktizieren und sich für Innovationen zu öffnen. Mit Projekten wie dieser virtuellen Bibliothek und einer verstärkten digitalen Präsenz des traditionellen indischen Puppentheaters wird vielleicht endlich das Etikett “aussterbende Kunst” in Frage gestellt. Und vielleicht wird dies auch endlich einen politischen Kurswechsel nach sich ziehen. Sicher ist jedoch, dass es zu neuen Diskursen rund um das Puppentheater und zu einem starken Anreiz für Neuerungen im gesamten Puppentheater in Indien führen wird.
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