Digitalisierung und urbaner Raum
In der Öffentlichkeit zu Hause

Gute Laune ist im öffentlichen Raum keine Privatsache mehr
Gute Laune ist im öffentlichen Raum keine Privatsache mehr | Foto: © Shutterstock

Was ist privat – und was öffentlich? Die Digitalisierung verändert unser Verhältnis zum öffentlichen Raum: Vor allem in Städten entdecken Menschen den öffentlichen Raum neu und leben darin ihren Wunsch nach kollektiver Erfahrung aus.
 

Jahrzehntelang war die Rede vom „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ (Richard Sennett). Der niederländische Architekt Rem Koolhaas behauptete, der öffentliche Raum werde für nichts mehr gebraucht außer fürs Shoppen. Und ähnlich erzählte auch der deutsche Philosoph Jürgen Habermas mit seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit eine Geschichte des Niedergangs. Die Menschen, so hatte es den Anschein, igelten sich ein in ihrer Privatheit und wollten vom Gemeinwesen nichts mehr wissen. Forciert durch das Internet, zerfiel die eine, die große Öffentlichkeit in viele Stämme. Denn im Internet findet jeder, was ihn interessiert, er findet Gleichgesinnte. Der Sinn fürs Große und Ganze geht verloren.
 
Doch trotz aller Privatisierungstendenzen ist der Drang nach draußen, hinein ins Öffentliche, ungeheuerlich. Spätestens seitdem das Internet mobil geworden ist und jeder ein Smartphone in der Hosentasche mit sich tragen kann, verwandelt es die Städte und verändert die geteilte Erfahrung des Öffentlichen. Die Bereitschaft vieler Menschen sich einzumischen, und etwas gemeinsam mit anderen zu gestalten, die Erfahrung, dass sich hier etwas verändern lässt, das Bedürfnis, sich selbst als handelndes Subjekt zu erfahren, all das gehört zur Kultur des interaktiven Internets. All dem verdankt die Stadt der Digitalmoderne viel von ihrer wachsenden Vitalität.

Das Netz kennt natürlich widerstrebende Bewegungen: Es erschließt Wege in die Anonymität und Vereinzelung; zugleich befördert es das Kollektivdenken, jenes Phänomen des „Sharism“, das viel von sich reden macht. Vielleicht ließe sich behaupten, dass dieses Gemeinschaftsgefühl, das in Crowd-Sourcing-Projekten wie Wikipedia zum Ausdruck kommt, die Psychologie des Öffentlichen verändert und sich auch deshalb das Verhalten vieler Menschen in physischen Räumen der Öffentlichkeit wandelt.

Die Hemmschwelle des Privaten fehlt

Eine stille Anarchie scheint viele Menschen zu erfassen, vor allem die jüngeren: Sie begreifen noch die hässlichsten Parkhäuser als Übungsplätze für athletische Kunststücke (Parcouring), verwandeln betonierte Straßenränder in kleine Blumenbeete (Guerilla Gardening), machen aus Stromkästen Kunstwerke (Street Art) oder erklären verwaiste Stadtplätze zur neuen Partyzone (Outdoor Clubbing). Und stets ist das Internet, sind Facebook und Twitter der Katalysator. Hier gibt es die nötigen Hinweise, hier wird überwunden, was als städtische Anonymität lange gefürchtet war.

Ähnlich radikal wie zuletzt vor gut 200 Jahren verschiebt sich derzeit das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Damals entstanden die bürgerliche Familie und die bürgerliche Intimität. Mit dem Verlassen der Wohnung veränderten sich die Verhaltensmuster, viele Dinge tat man einfach nicht im öffentlichen Raum: Man aß nicht aus Papiertüten, trank nicht im Gehen, nur die wenigsten Menschen hätten sich in aller Öffentlichkeit massieren lassen, wie jetzt auf manchen Großflughäfen üblich. Mit anderen Worten: Der öffentliche Raum erfreut sich heute nicht zuletzt deshalb wachsender Beliebtheit, weil es viele Hemmschwellen des Privaten nicht mehr gibt.
 
Manche glauben sogar, wir lebten bereits im Zeitalter der Post Privacy. „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun“, rät der langjährige Google-Chef Eric Schmidt. Oder um mit dem Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg zu sprechen: „Die Zeiten, in denen man seinen Kollegen bei der Arbeit die eine Persönlichkeit präsentieren konnte und seinen Freunden eine ganz andere, diese Zeiten werden ziemlich bald vorbei sein.“ Für Zuckerberg ist das Private öffentlich, das Öffentliche privat und damit im Grunde alles eins.

Das heißt nun aber nicht, dass der urbane Raum nicht mehr gebraucht würde, im Gegenteil. Überall wird demonstriert und protestiert, der viel beschriebene Wutbürger wäre nichts ohne Straßen und Plätze. Und gerade in den erregten Debatten um Street View, um Facebook oder die Datenkraken bei Apple zeigt sich, dass es trotz aller Veränderungen weiterhin ein ausgeprägtes Bewusstsein für das gibt, was die Grundlage jeder liberalen Öffentlichkeit ausmacht, nämlich das Recht auf Selbstbestimmtheit.

Urbanismus von unten

Wir haben es also mit einem Phänomen voller widerstreitender Tendenzen zu tun. Nicht zuletzt dieser Widerstreit aber ist es, der die Neubelebung des öffentlichen Raums, diesen Urbanismus von unten begründet. Anders als im Internet, in dem der Einzelne tendenziell stets dem Vertrauten begegnet, treffen im physischen Raum die Ichs in ihrer Verschiedenheit aufeinander. Sie formen kein stabiles, dafür ein überaus lebendiges Wir. Für Habermas galt noch das Kaffeehaus als Urort der politischen Öffentlichkeit. Heute, im Coffee-to-go-Zeitalter, ereignet sich auch das Politische oft im Vorübergehen, und das öffentliche Leben zieht auf Grillwiesen, auf Verkehrsinseln, vor Bahnhöfe. Mehr Menschen denn je, die sich nicht kannten, treffen aufeinander, tauschen sich aus, erfahren sich als Gemeinschaft auf Zeit. Es sind die Bewohner der neuen digitalen Welt, einige nennen sie Nomaden. Sie sind im Öffentlichen zu Hause.
 

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