Deutsche Indrustrielandschaft
Mit einer Kamera im Feuer
Viktor Mácha, ein führender tschechischer Industriefotograf, hat bisher über 300 Schmelzhütten, Kokereien, Stahlwerke und Gießereien in der ganzen Welt besucht und dokumentiert. Begleiten Sie ihn auf einer Reise von Prag nach Husum in Norddeutschland und lernen Sie dabei die deutsche Landschaft auf eine andere Art kennen: durch Schornsteine, Fördertürme und Schmelzöfen.
Von Viktor Mácha
Es war einmal, Ende der 1990er Jahre, als meine Eltern und ich durch Třinec fuhren und unser alter Škoda, vielleicht durch eine Fügung des Schicksals, in der Závodní-Straße landete, entlang derer sich der Fluss Olše träge wie eine Schlange windet. Dahinter türmte sich eine entsetzliche Hochofenkonstruktion auf, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Der ungeheuerliche Bau war so riesig, dass man nicht einmal den Himmel sehen konnte: Er zischte, brüllte und rauchte. Ich schaute fasziniert auf diese verkörperte stählerne Gottheit, die in einer Sprache zu mir sprach, die ich nicht kannte, die ich aber innerlich doch verstand.
Diese Erfahrung brannte sich tief in mein Unterbewusstsein ein. So begann ich, die Welt der Bergwerke und Hütten um mich herum mehr und mehr wahrzunehmen. Und ich begann sie zu lieben. Doch mit dem Ende des Jahrtausends begann sich diese Welt zu verändern. Der Horizont, an dem ich mich an Schornsteinen, Fördertürmen und Hochöfen orientiert hatte, wurde flacher. Die Schwerindustrie verschwand, und mit ihr auch ihre großartigen Ingenieurbauwerke. Für mich war das jedoch unmöglich zu akzeptieren. Ich konnte die schöne Welt der Kohle und des Stahls nicht einfach verkümmern lassen! Also kaufte ich meine erste Kamera und machte mich ohne jegliche Vorbereitung auf den Weg zur nächsten Mine. Wir schrieben das Jahr 2006, ich war 22 Jahre alt und überzeugt, dass jemand endlich damit beginnen sollte, die verschwindende Welt des Schwermaschinenbaus zu dokumentieren. Und warum sollte nicht ich es sein?
Reise in den Norden
Fünfzehn Jahre später erlebte das noch immer von der Coronavirus-Pandemie geplagte Europa einen heißen Sommer. Ich aber fuhr über die Autobahnen von Prag in die kühle norddeutsche Stadt Husum, wo ich meine erste internationale Ausstellung überhaupt eröffnen sollte. Sie trug den lakonischen Titel "Industriekultur" und stellte die besten Fotos der mehr als 300 Bergwerke, Hütten, Gießereien, Kokereien, Schmieden und Walzwerke in ganz Europa und den USA vor, die ich bisher geschossen hatte.Auf dem Weg nach Husum erinnerte ich mich an meine ersten Begegnungen mit Deutschland, seiner (nicht nur industriellen) Kultur und Sprache. Mitte der 1990er Jahre spielte ich zum Beispiel die Rolle des Lehrers Grünewald im Schulmusical "Tucki, das Auto". Dieses Musical war eines der ersten Projekte des Goethe-Instituts in Prag. Seine Hauptbotschaft war die Ökologie: ein Thema, das damals in der Tschechischen Republik eher exotisch erschien. Ich erinnere mich deutlich an den Refrain meines nervösen Auftritts - "Was passiert mit dem Müll?" Das ganze Musical drehte sich um das vergessene Wrack eines magischen Autos in einer Art mit Müll übersätem Wald.
Auf den Autobahnen nach Husum jedoch gab es überhaupt keine Abfälle. Im Gegenteil: Jedes Hinweisschild, jedes Richtungsschild auf einer perfekt gepflegten Straße weckte einen Geysir von Erinnerungen an meinen ersten Besuch in Deutschland. Ich fuhr dorthin, um die Stahlwerke der ehemaligen DDR zu fotografieren und war von der unbeschreiblichen Pracht des Dampfhammers in Freital verzaubert. Ich erinnere mich an das ohrenbetäubende Grollen des achtzig Tonnen schweren Lichtbogenofens in Riesa, bei dem mir immer wieder der Stöpsel aus dem linken Ohr fiel, an die riesige Schmiedepresse in Görlitz oder an die atemberaubenden Hochöfen in Eisenhüttenstadt, die mich so sehr in ihren Bann zogen, dass ich mich weigerte, das Konverter-Stahlwerk und das Bandwalzwerk zu besuchen, und lieber meine ganze Zeit im Gebläsesaal verbrachte.
Das bereue ich allerdings bis heute. Warum, fragen Sie? Man sollte meinen, dass es doch kein Problem wäre, die Schmelzhütte erneut aufzusuchen und die von mir begonnene Dokumentationsarbeit zu beenden. Leider ist das Gegenteil der Fall. Eine Fotogenehmigung für ein Industriegebiet zu erhalten, ist in der Regel sehr schwer. Es dauert Monate, manchmal sogar Jahre, um die Eigentümer der Industriewerke davon zu überzeugen, dass ich den guten Ruf ihres Unternehmens nicht schädigen will, dass ich nicht gekommen bin, um ihre wertvolle Technologie zu stehlen, dass ich kein Umweltfanatiker bin, der sich an ihre Öfen fesseln will usw. Und selbst wenn man endlich den Zutritt zu einer Fabrik erhält, müssen alle Fotos, die man dort macht, ein strenges Genehmigungsverfahren durchlaufen, bevor sie veröffentlicht werden können.
Nein, ich habe kein einfaches Hobby. Es kostet mich Hunderte, vielleicht Tausende von E-Mails und Anrufen pro Jahr, von denen nur ein Bruchteil auf fruchtbaren Boden fällt. Dabei verschwinden die Ikonen der Schwerindustrie in Form von Hochöfen und Fördertürmen immer schneller. Wie unglaublich leicht muss es gewesen sein, in der Zeit der Eheleute Becher Industriefotograf zu sein, wie einfach, in der Ära der Industriemaler Erich Mercker (1891-1973), Walter Hemming (1894-1979) oder Fritz Gärtner (1882-1958) die richtigen Motive zu finden... Die Schornsteine der Hütten winkten ihnen buchstäblich an jeder Ecke zu, und der rot-orangefarbene Rauch war schon von weitem zu sehen.
Ein Industrieparadies zum Anschauen
Mein Auto schluckt immer mehr Kilometer auf der Autobahn nach Norden, als ich von einer weißen Wolke am Horizont, die sich schnell gen Himmel bewegt, aus meinen Gedanken an die Vergangenheit gerissen werde. Auf dem Autobahnschild steht "Braunschweig 15 Km" und ich erkenne, dass irgendwo am Horizont das berühmte Eisenwerk Salzgitter liegen muss. Auch dort war ich einmal und habe in dem Gewirr von Industriegebäuden drei Hochöfen gefunden und fotografiert. Früher aber gab es dort sage und schreibe sechzehn Hochöfen. Sechzehn! Ein Paradies für Liebhaber von Industrielandschaften. Allerdings handelte es sich bei der Hälfte davon um hölzerne Attrappen, um die alliierte Luftwaffe zu verwirren und so den kontinuierlichen Betrieb des Werks sicherzustellen - denn die größte Entwicklung der hiesigen Eisenwerke fand zu Kriegszeiten statt. Aus dieser Zeit ist nur ein Hochofen, der "C"-Ofen, erhalten geblieben; zwei weitere wurden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut.Ich erinnere mich, dass ich mir beim Besteigen des örtlichen Entstaubungsturms unter dem Gewicht meiner Fotoausrüstung fast den Schädel brach. Aber den Blick aus dem neunten Stock werde ich bis heute nicht vergessen: Es war ein Spätherbstnachmittag, die Sonne färbte den Himmel orange, und ich hatte die ganze schwelende und blasende Schmelze vor meinen Augen. Man sagt, dass kurz vor dem Tod die wichtigsten Momente des Lebens wie in einem schnell abgespulten Filmstreifen vor den Augen ablaufen. Diese Aussicht wird einer von ihnen sein.
Alle Schönheiten des Ruhrgebiets
So tief stecke ich in meinen Erinnerungen, dass ich fast die Abzweigung nach Hamburg verpasst hätte und weiter nach Bremen und Duisburg gefahren wäre. Oder will ich unbewusst dorthin fahren? Bremen ist verflucht für mich, es wurde mir nie erlaubt, die dortigen Stahlwerke zu besuchen. Dabei verlange ich gar nicht viel: Nichts als ein paar Stunden Zeit und die Möglichkeit, zwei großartige Öfen, ein Konverter-Stahlwerk sowie ein Bandstahlwerk zu sehen und zu fotografieren. Aber nein, die Kommunikationsabteilung der Bremer Stahlwerke bleibt schon seit Jahren stumm. Aber ich gebe nicht auf: Geduld ist mein zweiter Vorname.Und dort, jenseits von Bremen, liegt schon das Ruhrgebiet und die Industriestädte Essen, Hattingen, Dortmund... mitsamt all den langsam erlöschenden Öfen Deutschlands. Wie oft war ich nun in den letzten Jahren hier! Zum Beispiel zum Besuch der DK Recycling-Hütte im Stadtteil Duisburg-Hochfeld, einer alte Eisenhütte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier befindet sich der älteste noch funktionierende Hochofen Europas, der heute im Schatten der hochmodernen Siemens-Halle steht. Sein glühendes Herz schwelt noch immer vor sich hin. Als ich dort 2015 zur Nachtschicht kam, betrat ich eine ganz andere Welt. Verschwitzte Männer mit einer Zigarette im Mundwinkel spannten eine Schlackenrutsche mit langen Stangen, während rohes Eisen aus dem Ofen in vorbereitete Pfannen floss. Dampf quoll aus den Rohren, prallte gegen die genieteten Strukturen über mir und tropfte in regelmäßigen Abständen auf meinen Helm. Von der Spitze des Hochofens aus konnte ich das ganze weite Duisburg überblicken. Vor allem zwei Wahrzeichen waren am Horizont nicht zu übersehen: die Stahlwerke Schwelgern und Brückhausen, Ikonen des Imperiums ThyssenKrupp.
Unter anderem war ich dort, weil es unbedingt notwendig war, den neuesten Hochofen Nummer 8 zu verewigen, entworfen von dem berühmten Designer Friedrich-Ernst von Garnier (*1935). Seine Idee, die verschiedenen Teile des Bauwerks je nach Temperatur zu färben, war neu, aber für ein Auge, das an die dunklen Schattierungen des üblichen Rosts gewöhnt ist, nicht sehr ansprechend. Nicht umsonst gilt der Duisburger "Achter" als der hässlichste Ofen der Welt. Aber er funktioniert - und das ist, was zählt.
Es ist die Mühe wert
Doch die Erinnerungen an das Ruhrgebiet, für mich ein sehr schöner Teil Deutschlands dürfen mich nicht zurückhalten: Die Vernissage in Husum beginnt in weniger als zwei Stunden, und ich bin erst irgendwo vor Hamburg. Wenn wir schon über Hamburg sprechen: Dort befindet sich der MIDREX-Schmelzofen, ein Wahrzeichen der Hamburger Stahlwerke, die heute zur ArcelorMittal-Gruppe gehören. Er wurde 1968 als der erste seiner Art in Europa gebaut. Letztendlich hat sich diese Art der direkten Kürzung auf unserem Kontinent jedoch nicht durchgesetzt und wurde daher beibehalten. Trotzdem ist es wunderschön. Auf der Umgehungsstraße durch den Verkehr fahrend, habe ich die Gelegenheit, all ihre anmutigen Kurven zu sehen.Die Stahlwerke verschwinden in der Ferne, und die Industrielandschaft beginnt sich rasch zu entfernen. Jetzt bin ich nur noch einen Steinwurf von Husum entfernt. Ich halte am Straßenrand an und steige zum ersten Mal seit Prag wieder aus dem Auto. Die Sonne geht langsam unter. Ich atme den Geruch von Salzwasser und Schafen ein, die auf den aufgeweichten Wiesen ringsum grasen. Schnell ziehe ich mir etwas Festlicheres an und eile weiter. Um 17.58 stehe ich dann vor dem Haus der Fotografie, welches aus dem ursprünglichen Bürogebäude der Getreidespeicher nur wenige Meter vom Strand entfernt umgebaut wurde. Alles ist vorbereitet, auf dem Tisch sprudelnder Sekt, und an den Wänden hängen meine materialisierten Erinnerungen an all die deutschen, tschechischen, europäischen und amerikanischen Stahlwerke, Schmieden, Gießereien, Kokereien und Schmelzhütten. Es war die Mühe wert.
[1] Bernd Becher (1931-2007) und Hilla Becher (1934-2015) waren international bekannte deutsche Fotografen. Sie konzentrierten sich hauptsächlich auf Schwarz-Weiß-Bilder von Industrielandschaften.