Future Perfect
Kino gegen Kugeln
In Bogotás verrufenem Stadtteil Ciudad Bolívar entsteht ein Gemeinschaftsprojekt, das Kino, Architektur und Bildung verbindet – und dem Viertel neues Ansehen gibt.
Wenn sie Ciudad Bolívar hören, denken viele Bewohner Bogotás zuerst an Armut, Ausgrenzung, illegale Grundstücksbesetzung, Gewalt und Gefahr. Denn in diesem Stadtteil in den südwestlichen Bergen der kolumbianischen Hauptstadt treffen verschiedene Probleme aufeinander. Auslöser sind die Ungleichheit innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft und der bereits über 50 Jahre andauernde bewaffnete Konflikt im Land. In Ciudad Bolívar leben Guerilleros, Paramilitärs und Drogenhändler; auf der Straße verkaufen kriminelle Banden Drogen, und korrupte Polizisten schauen weg. In den Bergen gibt es illegale Minen; dort wohnen Menschen vom Land, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Trotzdem leben auch hier, an genau diesem Ort, junge Menschen, die sich Mühe geben, dem sozialen Abseits zu entkommen und gegen die Stigmatisierung anzukämpfen. Sie schätzen die Berge, zwischen denen sie wohnen, und sie glauben daran, dass auch in Ciudad Bolívar ein gutes Leben möglich ist.
„Ich möchte Filmemacher werden und wie Stefan Kaspar sein, der das Kino in unserem Viertel gegründet hat“, sagt Joel Chavarro, er ist gerade erst zwölf geworden und von seinem Plan überzeugt. An den vergangenen vier Wochenenden ist er motiviert und immer früh aufgestanden; aber nicht um zu spielen, sondern um beim Bau des ersten Kinosaals in Ciudad Bolívar zu helfen: beim Bau seines Lebens, wie Joel es nennt.
HELLWACHE BLICKE
2005 wurde das gemeinnützige Projekt Sueños Films Colombia gestartet, um alternative Angebote für audiovisuelle Bildung und Kommunikation zu geben. Eine Gruppe junger Menschen aus der Gemeinde gründete damals die Escuela Popular de Cine y Video Comunitario; eine Schule, die allen Interessierten für gemeinschaftliche Film- und Videoprojekte offen steht. Carolina Dorado, eine der Koordinatorinnen der Bildungsstätte, sagt, hier könnten Jugendliche und Erwachsene lernen, mit der Kamera umzugehen. Das Ziel der Schule sei es aber, „Lebensprojekte zu entwickeln“. Projekte wie das von Joel, der vor fünf Jahren an die Schule gekommen ist und heute nicht nur einen Traum, sondern auch die Gewissheit hat, dass er in Kuba Filmregie studieren wird. Anschließend will Joel die Schule und das lokale Filmfestival Ojo al Sancocho (etwa: „Blick in den Eintopf“) leiten.
Denn den jungen Filmemachern in Ciudad Bolívar genügte es nicht, eine Schule zu gründen. Nachdem sie drei Jahre lang Filme gedreht hatten, wollten sie ihre Arbeit von den Festplatten der Kameras auf die Leinwand bringen und die Filme so bekannt machen. Deshalb gründeten sie das Festival. Wie der Name sancocho („Eintopf“) schon andeutet, wird hier der Blick auf das gerichtet, was Ciudad Bolívar ausmacht: eine Mischung aus „extrem armer Bevölkerung und besonders Reichen, sowie Intellektuellen, Dichtern und Künstlern“, erklären die Gründer. Inzwischen ist die Initiative aus Ciudad Bolívar als Beispiel für das kolumbianische und internationale Gemeindekino bekannt geworden.
GEMEINSAM EIN KINO BAUEN
Nach der Gründung des Festivals soll nun auch noch ein eigenes Kino gebaut werden: Denn seit mehr als drei Jahren träumen die Festivalgründer von einem eigenen Ort, um ihre Kurzfilme zu zeigen. Über das kolumbianische Kollektiv Arquitectura Expandida, eine Organisation, die Räume für soziale Projekte baut, erhielten sie die nötigen finanziellen Mittel. Laut Felipe González, einem der Mitglieder, ist dieses Kollektiv „ein Projekt, das eine Lücke füllt, die der Staat entstehen ließ, da es keine Infrastruktur für Soziales und Bildung gab.“ Drei junge Leute – ein Belgier, eine Spanierin und der Kolumbianer González – haben Arquitectura Expandida im Jahr 2010 gegründet, unterstützt durch ihr Wissen in Urbanistik und Architektur. 2016 setzen die drei ihren Fokus auf die Unterstützung des Kinobaus in Ciudad Bolívar.
Doch für González bedeutet das nicht, dass jemand von auswärts nach Ciudad Bolívar kommt und dort einfach so ein Gebäude hinsetzt. Ganz im Gegenteil: Es soll ein gemeinsamer Kraftakt mit und für die Gemeinde sein. Der Kinosaal, der aus Guadua-Bambus gebaut wird, kann nicht nur für Filmvorführungen, sondern auch für Veranstaltungen genutzt werden. Auch der Baugrund wurde gemeinschaftlich ausgewählt, ein Ort mit symbolischem Wert. In der Vereda Potosí liegt das Colegio Ices: eine Schule der offenen Türen und ein alternativer und allen zugänglicher Bildungsort. Die Schule ist auch ein Ort des Widerstands in Ciudad Bolívar. Denn obwohl einer ihrer Gründer ermordet wurde und die Stadtverwaltung Bogotás das Colegio nicht mehr finanziell unterstützt, funktioniert die Bildungseinrichtung weiterhin. Genau dort entsteht der Kinosaal in einem eingeschossigen Häuschen. „Das hier ist das Epizentrum unseres Stadtviertels, hier ist die Filmschule untergebracht, und hier begann auch die Geschichte des Colegios. So erinnern wir an die Geschichte und daran, dass sich die Gemeindemitglieder hier durchgesetzt haben“, erklärt Hernando Gutiérrez, einer der Leiter des Colegio Ices.
Am Bau des Kinos beteiligen sich schon einige Anwohner. Die Bauarbeiten finden am Wochenende statt, damit mehr Menschen mitmachen können. Am Anfang erwies sich vieles als schwierig, aber je weiter der Bau voranschreitet, desto mehr Menschen wollen mitmachen. Ab dem zweiten Wochenende kam José Arcángel, ein Bauarbeiter dazu: „Ich habe gesehen, dass es Werkzeug gibt, mit dem sich arbeiten lässt. So schwierig es auch sein mag, ich mache das, weil mir der Gedanke gefällt, dass andere etwas haben, was ich nicht hatte“, sagt der weißhaarige Mann, der trotz seines Alters jedes Wochenende als einer der ersten zur Arbeit erscheint.
FILME STATT KAMPF
So wie der zwölfjährige Joel, der Regisseur werden will, und José, der Bauarbeiter, kommen jedes Wochenende immer mehr Menschen zum Sägen, Hämmern und Abmessen an die Kinobaustelle.
Wenn im Oktober 2016 das Festival Ojo al Sancocho zum neunten Mal stattfindet, wird der Kinosaal mit einem gemeinschaftlich produzierten Filmprojekt der Bewohner zum ersten Mal bespielt werden. So können die Bewohner für sich selbst sprechen und brauchen keine Vermittler, um Kritik zu üben. Mit der Einweihung des Kinos bestätige sich, so die Gemeindesprecherin Angie Santiago, dass jeder Kameraschuss einen Schuss mit einer Waffe verhindere. „Die Kamera lässt uns unsere Sicht der Dinge in unserem Stadtteil zeigen“, ergänzt Santiago. „Wir können die Wahrheit sagen – und vor allem wird so vermittelt, was sich an diesem Ort wirklich abspielt.“