Goethes Pfadfinder
Guten Tag, Wurst!
Zu Beginn würde ich gern das Wichtigste sagen: Ich bin langjähriger Vegetarier. Deshalb hat mich das Angebot vom Goethe-Institut, das (angeblich) bekannte Berliner Currywurst-Museum zu besuchen und darüber zu berichten, einigermaßen überrascht. Hatten die deutschen Kollegen vielleicht einen Fehler gemacht? Jeder Fleischesser wäre doch ein besserer Kandidat als ich! Bald habe ich aber verstanden, dass ich gerade wegen meines überzeugten Vegetarismus für den Besuch der deutschen Würste bestimmt wurde – ein Goethe-Pfadfinder fährt nämlich nicht dorthin, wohin er möchte, sondern dorthin, wo es Spaß gibt, Abenteuer und Aufregung.
Von Richard Pavlíček
Ich habe mich an meine Kindheit erinnert, als wir als kleine Jungs den Spuren von allem Möglichen gefolgt sind – Hunden, der Nachbarin, Papa auf dem Weg zur Kneipe. Aber einer würzigen Wurst hinterherlaufen? Niemals... Einem ordentlichen Spurensucher graut es vor nichts und so habe ich der Fahrt nach Berlin zugestimmt – wenn auch mit leichten Bedenken.
RUF DER WILDNIS
Zu Hause gebe ich die neuen Reiseplanungen bekannt und suche nach einem Datum, an dem ich fahren könnte. Die Familie reagiert aufgeregt und fängt direkt an zu packen: „Du denkst doch nicht etwa, dass du alle Würste allein essen wirst? Wir fahren mit!“, lacht meine Frau Magda über mich. Und so wurde nichts aus einer ruhigen Herrenfahrt in das Innere einer deutschen Metropole, dem Ausflug nach Berlin wird offensichtlich nicht nur das Curry eine besondere Würze verleihen, sondern auch meine eigene Familie. Wir fahren los. Magda, die Navigationssystemen grundsätzlich nicht traut, sucht mit dem Finger auf einer Karte aus der Zeit der sozialistischen Tschechoslowakei nach dem kürzesten Weg nach (West?) Berlin. Während ich mich erbittert aus den verwinkelten Straßen Prags heraus zu schlängeln versuche, verbessert meine Tochter auf dem Rücksitz ihr Deutsch: Wir sind kaum losgefahren und schon kann ich ihr zum einhundertsten Mal wiederholtes „Guten Tag“ und „Tschüss“ nicht mehr hören. Diese Fahrt verspricht noch interessant zu werden!
Bald ist klar, dass wir die lange Fahrt nicht auf einmal schaffen. Zudem ist mir gerade nicht unbedingt danach, noch heute zum Abendessen eine Curry-Wurst zu bekommen. Und so freuen wir uns alle, als wir ein schönes Naturreservat in Brandenburg mit dem fürchterlichen Namen Mühlenfließ-Sägebach finden. Diesen Namen kann man sich einfach nicht merken... Dennoch wirken der kühle Teuplitzer See und die anliegenden Moore weitaus angenehmer als die hektische Autobahn, und so bleiben wir über Nacht: Warte nur, du Wurst! Ha ha ha...
Nach dem Weckruf durch die brandenburgische Vogelwelt machen wir uns am Morgen des zweiten Tages zur Station Groß Köris auf und brausen ökologisch nach Berlin, mit dem Zug. Und dann auch mit der U-Bahn, denn anders kommt man nicht vernünftig in die Mitte der Stadt. Begeistert zeige ich meiner Familie den Check-Point Charlie: Hier befand sich in Zeiten der geteilten Stadt der berühmte amerikanische Grenzübergang. Hier wurde Geschichte geschrieben, hier hat sich der Kalte Krieg abgespielt – und ich fahre wegen einer warmen Wurst hier her... Ach ja.
EINEN SCHNAPS? NEIN, LIEBER EINE CURRY!
Das Curry-Wurst-Museum gibt es seit 2009 in der Schützenstraße. Der erste, den wir sehen, ist überraschenderweise kein Würstchenbrater, sondern ein freundlicher Mann am Empfang – statt Kreationen aus toten Tieren in Currysoße verkauft er uns Eintrittskarten und führt uns in die Geschichte der würzigen Wurst ein. Alles begann mit einer gewissen Herta Heuwer (1913-1999), einer Berliner Verkäuferin, die in ihrem fahrbaren Stand die erste Currywurst verkaufte. Dies war am 4. September 1949 und zwar im Bezirk Charlottenburg. Herta hieß mit zweitem Namen übrigens auch Charlotte. Und was denken Sie, welcher mein deutscher Lieblings-Fußballverein ist? Herta BSC. Zufall? Ich denke nicht... ;-)
Aber zurück zu Herta: Ihre Erfindung der warmen würzigen Wurst hängt wohl mit dem Kalten Krieg zusammen, weil – Achtung, Achtung – der Bezirk Charlottenburg nach dem Zweiten Weltkrieg zum britischen Sektor gehörte, und gerade von britischen Soldaten hatte Herta wohl Ketchup und Curry bekommen. Man sagt, dass sie das damals seltene Curry mit einem Briten gegen eine Flasche kräftigen deutschen Schnaps getauscht hat. Sicher ist aber, dass sie diesem wunderbaren Gewürz und dem dunklem Tomatenmark nach und nach 10 bis 12 weitere Zutaten beimischte, bis sie endlich zufrieden war. Sie ließ die Soße durchziehen, erhitze sie am nächsten Tag, goss sie über eine gut gebratene Wurst und servierte den hungrigen Berlinern die erste Currywurst.
Ich muss zugeben, dass mich die Geschichte der Wurst gefesselt hatte. Sicher, die blanke Sehnsucht nach Fleisch hat mich nicht gepackt, sei es noch so mit Curry oder Ketchup übergossen. Aber die Geschichte hinter etwas scheinbar so banalem zu entdecken, das ist schon ein Abenteuer. Das Museum allerdings baut nicht nur auf Hertas Geschichte auf – ein wichtiger Teil sind interaktive Spiele, die, wie sollte es anders sein, mit deutscher Sorgfalt gemacht wurden. So hängt dort zum Beispiel eine sehr genaue Karte von Berlin mit einzeichneten Büdchen, wo die schmackhaftesten Varianten dieses würzigen Wunders verkauft werden. Und von denen gibt es genug! So viele, dass man den Eindruck bekommen könnte, dass Berlin die Hauptstadt der Würstchenesser sei.
WO DER TEUFEL NICHT SELBST HIN WILL, SCHICKT ER EINE WURST
Der Familie gefällt es bisher ganz gut. Magda schwingt zu den Rhythmen von Popsongs über die Currywurst, die aus Lautsprechern in Form von Ketchupflaschen fließen. Dorka hat irgendwo eine riesige Plastik-Pommes gefunden und versucht diese nun mit einem großen Klecks Ketchup zu bestreichen, der von der Decke hängt. Bei Gott, ist das wirklich Ketchup? Na, gehen wir lieber weiter… Uns erwarten geheimnisvolle, von der Erde emporragende Röhren. Nach dem Öffnen der Deckel prasseln mehr oder weniger würzige Gerüche auf uns ein: Aha, das werden wohl all die Zutaten sein. Sie zu erkennen gelingt uns im Ganzen ganz gut, mit ihrer Benennung auf Deutsch ist es schon schwieriger.
Mein Kind jubelt auf einmal vor Begeisterung auf und stürzt sich auf ein Miniaturzelt voll Geschirr und Besteck. Es zeigt sich, dass dies der Ort ist, an dem jeder Besucher ausprobieren kann, ob er eine Currywurst zubereitet bekommt. Dorka möchte mich unbedingt in der Rolle des Kochs sehen, ich füge mich aber erst, nachdem ich erkenne, dass der Imbiss eher Spielzeug ist – und so spiele ich nach Jahrzehnten wieder „kochen“ und „serviere“ meiner Familie Plastikpommes und eine goldgebratene Currywurst, ebenso aus Plastik. Immerhin, eine echte würde ich nicht einmal anfassen wollen. Nun, guten Appetit!
Nach der harten Arbeit haben wir alle Hunger. Der Familie läuft in Gedanken an Currywurst das Wasser im Munde zusammen, wie auch anders, dieser teuflischen Marketing-Fleischesser-Versuchung nicht zu widerstehen ist schwer. Ich aber halte stand, drücke auf einem Proteinriegel in meiner Tasche herum und gehe mit der resignierten Überzeugung ins Museumsrestaurant, dass sie hier für mich nichts, aber auch wirklich nichts zu Essen haben werden. Und dann kommt ein besonderer Höhepunkt des Museums: Zwar riecht hier alles nach Curry, Fett, Fleisch und Bier, aber offensichtlich denkt man im Mekka der Fleischesser an uns, die Minderheit der Vegetarier. So kann man hier nämlich auch eine sehr gute Veggie-Currywurst kaufen, die nicht einmal Spuren von Fleisch gesehen hat. Ich bin begeistert und während ich das vegane Wunder kaue, frage ich mich, was wohl die gute alte Herta Heuwer zur Currywurst ohne „Wurst“ sagen würde. Hätte sie nicht lieber ihren Schnaps behalten, wenn sie gewusst hätte, wie das einmal ausgehen würde?