Die Graphic Novel Der Umfall (2018) von Mikael Ross, die 2021 Michaela Škultéty ins Tschechische übertrug, entstand nach zweijähriger Recherche in dem Ort Neuerkerode, einer Betreuungseinrichtung für Menschen mit Behinderung. Der Autor erhielt hierfür 2020 den Max & Moritz Preis für das beste deutschsprachige Comic.
Nach einer Ausbildung zum Theaterschneider an der Bayerischen Staatsoper München studierte Mikael Ross (geb. 1984 in München) an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und in Brüssel. 2008 veröffentlichte er sein erstes Werk Comic Herrengedeck im Eigenverlag. 2013 schuf er gemeinsam mit dem Belgier Nicolas Wouters die Graphic Novel Les pieds dans le béton, die unter dem Titel Lauter Leben! ein Jahr später auch auf Deutsch erschien. 2018 brachte er seine Graphic Novel Der Umfall heraus. Mikael Ross lebt in Berlin.
Vom Dorf Neuerkerode habt ihr wahrscheinlich noch nie gehört. Das macht nichts, denn bevor Mikael Ross darüber eine Graphic Novel zeichnete, hatte er davon auch noch nie etwas gehört. Dabei ist es ein Ort, der es verdient, dass man von seiner Existenz weiß. Dieser Ort selbst ist wahrscheinlich sogar noch interessanter als der Comic Der Umfall, der dort entstand.
Der polnische Verlag Centrala bringt seit einigen Monaten einen Comic nach dem anderen auf den tschechischen Buchmarkt. Überwiegend handelt es sich um hochwertige Titel, die aber keinesfalls in die Kategorie Mainstream fallen und sich noch weniger als kommerzielle Titel bezeichnen lassen. Das ist auch der Fall bei Nehoda (im dt. Original Der Umfall) von Mikael Ross, dessen Veröffentlichung aus diesem Grund auch finanziell vom Goethe-Institut gefördert wurde. Der Umfall wurde hervorragend übersetzt von Michaela Škultéty, und dank ihr können auch wir 150 Jahre Neuerkerode feiern – obwohl das Jubiläum in Wirklichkeit schon drei Jahre her ist, es war 2018. Mit der tschechischen Ausgabe feiern wir also den 153. Geburtstag.
Neuerkerode ist ein inklusives Dorf, das auf halbem Weg zwischen Magdeburg und Hannover liegt. Im Nachwort steht: „Am 13. September 1868 beschlossen der Pastor Gustav Stutzer, Dr. Oswald Berkhan und die Bankierstochter Luise Löbbecke, die Betreuung von Menschen zu übernehmen, die auf die Hilfe anderer angewiesen waren.“ Antrieb war die christliche Nächstenliebe, ein Prinzip, das hier bis heute vorherrscht. Allerdings – mit Ausnahme der Kriegsjahre. Diese Zeit wird im Comic durch einen Rückblick eingefangen, der die Erinnerungen einer langjährigen Bewohnerin einfängt. Neuerkerode verlor damals einen beträchtlichen Teil seiner Einwohnerschaft, da Menschen, die auf die Hilfe von anderen angewiesen waren, nicht in Hitlers Auffassung von Deutschland passten.
Zum Glück überlebte Neuerkerode aber den Krieg, und heute handelt es sich um ein sozial-wirtschaftliches Unternehmen mit komplexen Dienstleistungen und einem umfassenden Versorgungsnetz. Dreitausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich um einige tausend betreuungsbedürftige Klientinnen und Klienten. Und genau hier spielt die Geschichte des Autisten Noel, der Anfang zwanzig ist und seine Mutter liebt. Aber die Mutter, die sich bisher um ihn gekümmert hatte, kann hier nicht bei ihm sein. Kurz vor Weihnachten stürzte sie nämlich im Badezimmer – Noel hatte gerade die Tickets für das ersehnte ACDC Konzert bekommen – und nun liegt sie im Koma.
Was genau ein Koma ist, das weiß Noel nicht so recht, aber es ist wahrscheinlich eine schlimme Sache, da er aus der Wohnung raus muss und ein mürrischer Mann ihn weit weg bringt. Für Menschen, die wie Noel sind, gibt es in Neuerkerode glücklicherweise Einrichtungen. Der Künstler Mikael Ross schaffte es, die Atmosphäre des Ortes einzufangen, während der Arbeit an seinem Werk verbrachte er nämlich zwei Jahre im Dorf. Ein einziger Tag im Projekt aber hatte ausgereicht, um einen unglaublich starken Eindruck bei ihm zu hinterlassen.
Es sind eben die Erfahrungen aus dem Dorf, die aus den Comicseiten klar hervortreten und die zugleich das Wertvollste sind, was das Projekt zum Geburtstag beiträgt. Selbstverständlich ist der etwas dickliche Noel der Sympathieträger, und er hält den Comic spielerisch zusammen, aber zugleich ist es eine Geschichte, in dem sich der Autor darum bemüht, dass absolut alle die Hauptrolle spielen.
Verständlicherweise war es bei der Arbeit notwendig, eine zentrale Figur auszuwählen. Die Wahl fiel auf Noel, der laut und groß und gutherzig ist und oft in den Strudel von Ereignissen gerät, die er zwar unwissentlich ausgelöst hat, sie dann aber oft nicht schafft aufzulösen – dafür ist aber das soziale Netz des Dorfes da, das der Comic brillant vorstellt.
Der Comic bleibt – bis auf die oben erwähnte Ausnahme – bei einer linearen Erzählweise. Er ist nicht als abgeschlossener Roman konzipiert, eher als Auswahl von Episoden aus dem Leben Noels, die angereichert werden mit neuen Erlebnissen des Helden im Heim, von dem er nicht so genau weiß, was er davon halten soll. Er wohnt doch eigentlich in Berlin mit seiner Mutter, die sich jetzt eine Zeit lang nicht um ihn kümmern kann.
Und so vergehen Tage und Wochen, und Noel wächst allmählich in seine neue Umgebung hinein, so wie langsam aber sicher auch Neuerkerode in ihn hineinwächst. Er findet Freunde, verliebt sich, jemand anderes verliebt sich in ihn, er gerät in eine Schlägerei, er haut ab zum Konzert von ACDC, Pardon, „Eyzzie-diezzie“, und er fängt an Judo zu trainieren. Eine Katharsis im eigentlichen Sinne stellt sich nicht ein, auch wenn Mikael Ross dies versucht durch eine Traumerscheinung des Geistes der Mutter aus der Zeit, als sie noch Ballett tanzte.
Im Ergebnis handelt es sich aber um die überflüssigste Szene des ganzen Comics, die Mikael Ross und vielleicht auch der Verlag dort brauchen, aber sicher nicht Noel. Dem reichen die himmlischen ektrischen Aale völlig aus, die dieses Knistern zwischen den Menschen hervorrufen. Und Blitze – die sind für die Geschichte, wie ihr merken werdet, viel wichtiger. Sodann, auf nach Neuerkerode, das offenbar so eine Art echtes Mumintal ist, wo es einen Platz und eine Mahlzeit gibt für jeden, der es wirklich braucht.
Den Jungen Noel verfolgt das Pech. Seine liebe Mutter, die ihm die erwünschte E-Gitarre und ein AC/DC-Ticket zum Geburtstag geschenkt hat, liegt im Koma. Für Noel, der mit ihr noch kurz davor Marshmallows auf dem Balkon geröstet hatte, fängt damit eine Kette von unbegreiflichen und oft angsteinflößenden Ereignissen an, die die unausweichliche Wandlung vom Kind zum Erwachsenen einleiten.
Das Comicbuch von Mikael Ross ist eine rührende Geschichte über Verlassenheit, über eine Kindheit, der es am Wichtigsten fehlt – am Gefühl der Sicherheit. Der Hauptfigur der Geschichte begegnen wir in einer kurzen Exposition, die die liebevolle Beziehung zur Mutter schildert. Noel ist sehr glücklich, er bekommt ein Ticket für das Konzert seiner Lieblingsband. Dann ereignet sich aber etwas Wichtiges, Schreckliches – und Titelgebendes: Der Umfall. Es handelt sich tatsächlich um einen Unfall mit großem „U“ – wir verfolgen das Schicksal eines Kindes, das seine einzige Bezugsperson, von der es abhängig war, verliert und deshalb auf die Hilfe fremder, wenn auch freundlicher, Personen angewiesen ist, sowie auf sich selbst. Für Noels Leben (der Leser ahnt, dass der Junge geistig behindert ist, auch wenn das im Buch mit keinem Wort erwähnt wird) bedeutet dies eine Reihe von Übergangslösungen; zum Schluss wird er in einem Heim in Neuerkerode untergebracht, einem Dorf in Niedersachsen, das von Menschen mit und ohne Behinderung bewohnt wird. Alle Bewohner teilen hier Alltag, Arbeit und Freizeit. Hierbemüht Noel sich, aus den Scherben seiner früheren Existenz sowie seiner unerfreulichen Gegenwart ein Leben aufzubauen, das lebenswert ist.
Beim Erzählen seiner Comicgeschichte greift der Zeichner – und seit der Veröffentlichung des Comics Der Umfall auch Drehbuchautor – Mikael Ross auf traditionelle Mittel zurück: Der Comic wird in eine klassische dreizeilige Rasterfolie gegliedert, die sehr gut zu den halbnahen Ansichten sowie zu den Details der Figuren passt, die den Comic bevölkern. Ross‘ Darstellung der Charaktere verrät ein geschultes Auge für Details der Kostüme, der menschlichen Physiologie und der Umgebung. Sein Zeichenstil erinnert stellenweise an französische Zeichentrickfilme (etwa an die Figuren von Nicolas de Crécy), er bleibt jedenfalls plastisch genug, um die Emotionen, aber auch die grobe Körperlichkeit der jeweiligen Figuren, glaubwürdig zum Ausdruck zu bringen.
Ross ‘einzigartiger Comic entstand im Auftrag der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, die das Werk anlässlich des 150. Jubiläums ihrer Gründung veröffentlichte. Der Stiftungsvorstand war insofern weitsichtig, als dass er dem Autor freie Hand gewährte, die Geschichte auf seine spezifische Art und Weise zu erzählen. Diese Entscheidung, in Verbindung mit der Erzählkunst von Mikael Ross, hat ein einzigartiges Werk der Comicliteratur zur Folge: eine der empathischsten und rührendsten Darstellungen des Lebens von Menschen mit einer Behinderung, die in der Gegenwartsliteratur überhaupt zu finden ist. Mikael Ross arbeitete zweieinhalb Jahre an seinem Comic, im Laufe dieser Zeit wohnte er in Neuerkerode (mit kurzen Unterbrechungen) und wurde somit zum Mitglied der Gemeinschaft. Wie er mit ihr verschmolz, spiegelt sich selbstverständlich in seiner Arbeit wieder – er konnte folglich ein überraschend authentisches und zugleich gefühlvolles Zeugnis ablegen. Im Interview mit dem Spiegel erwähnt der Autor von Der Umfall, ein Erzähler müsse seine Figuren lieben – und gerade sein Comicbuch liefert den Nachweis dafür, dass ein Werk sehr gut gelingen kann, falls diese Voraussetzung erfüllt wird. Ross geht es in erster Linie nämlich nicht um die Schilderung eines einzelnen schweren Schicksals, sein Comic ist ein Porträt einer ganzen Gemeinschaft von jungen und alten Menschen, die mit verschiedenen und oft vernichtenden Schicksalsschlägen zu kämpfen haben und sich auf ihr schweres Leben dennoch einlassen, ohne mit Gott zu hadern oder über Ungerechtigkeit zu lamentieren. Ihre Probleme mit Liebe und Hass, mit Sehnsucht und Verlassenheit erinnern uns – manchmal schmerzlich, manchmal gefühlvoll – daran, dass alle Menschen im Innern mehr oder weniger ähnlich sind – und das ist die schönste Botschaft dieser Comicgeschichte.
– Herrengedeck. Eigenverlag, 2008
– Lauter Leben! Mit Nicolas Wouters. avant-verlag, 2014
– Totem. Mit Nicolas Wouters. avant-verlag, 2016
– Der Umfall. avant-verlag, 2018. Tschechisch: Nehoda, Übersetzt von Michaela Škultéty. Centrala, 2021
– Das Gewand im Mittelalter: Schnittzeichnungen und Textanleitungen. Mit Sven Jungclaus. Books on Demand, 2018
– Die Herrenschneiderei: Grundschnitte selbst erstellen. Mit Sven Jungclaus. Books on Demand, 2018
– Goldjunge. avant-verlag, 2020
(geb. 14.12.1972 in Prag) Übersetzerin und Autorin
Michaela Škultéty konzentriert sich auf die zeitgenössische deutschsprachige Literatur und Belletristik für Kinder und Jugendliche. Sie ist Preisträgerin der IBBY Honourlist 2014 für Tschechien für die Übersetzung des Romans Tschick von Wolgang Herrndorf sowie des Goldenen Bandes für Kinder- und Jugendbücher. Sie arbeitet langfristig mit dem Prager Literaturhaus und dem Goethe-Institut zusammen. 2019 hat sie ein eigenes Buch mit dem Titel Život a jiné nesrovnalosti (Das Leben und andere Unregelmäßigkeiten) herausgegeben.