Ein Mann, der Verrat beging, oder ein Mann, der verstanden hat?
Wenngleich Siegfried Lenz (1926–2014) zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur gehörte und seine wichtigsten Werke für tschechische Leser bereits vor 1989 erhältlich waren, steht sein Name in Tschechien etwas im Schatten seines Zeitgenossen Günter Grass oder des etwas älteren Heinrich Böll, deren Werke auch nach 1989 in tschechischer Sprache erscheinen, während Lenz aus den Editionsplänen der Verlage verschwand. Doch der etwas in Vergessenheit geratene Klassiker sorgte in deutschen Literaturkreisen posthum für eine Sensation, als Archivare in seinem Nachlass die Handschrift des Romans
Der Überläufer entdeckten, den Lenz´ Hausverlag im Jahre 1952 nicht veröffentlichen wollte und der anschließend in der Versenkung verschwand.
Der Überläufer wurde auf dem deutschen Markt zu einem Beststeller, und die ARD strahlte dieses Jahr im Frühjahr anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs eine zweiteilige TV-Verfilmung unter der Regie des Oscar gekrönten Regisseurs Florian Gallenberger aus. Auf den tschechischen Markt gelangte Lenz´ zweiter und doch zuletzt herausgegebener Roman in der Übersetzung von Petr Dvořáček im Verlag Prostor.
Der Hauptheld des Buches ist der deutsche Soldat Walter Proska, der nach seiner Gefangennahme durch Partisanen beschließt, auf der Seite der Roten Armee zu kämpfen. Unter Verwendung dieses im Grunde einfachen Plots, der trotz anfänglicher positiver Reaktionen des Verlegers schließlich zum Haupthindernis dessen wurde, dass der Roman damals erscheinen konnte, denkt der Verfasser vor allem mit Hilfe von Dialogen der Charaktere über die Bedeutung von Begriffen wie Patriotismus, Soldatenehre, Gewissen und Moral nach, ebenso darüber, wie einfach diese von einer kleinen Clique Auserwählter zur Beherrschung der Massen und Erreichung der eigenen Machtziele missbraucht werden können. Und dies alles vor der Kulisse unendlicher sumpfiger Wälder des heutigen polnisch-weißrussisch-ukrainischen Grenzgebiets, wo eine ganze Division spurlos verschwinden könnte.
Die Soldaten einer kleinen abgeschnittenen Einheit unter der Leitung eines primitiven, sich in Schikane sonnenden Unteroffiziers sind den Mücken und den Partisanen gleichermaßen ausgeliefert und haben bereits die Hoffnung verloren, sie würden je wieder aus dem unendlichen Wald herausfinden. Ihre Pflichten erfüllen sie nur aus einer Art Trägheit heraus mit dem Bewusstsein, dass die Lage nur schlimmer werden kann, wenn sie nicht vorher Partisanen zum Opfer fallen. Die Gefangennahme der gesamten Einheit durch eine zahlenmäßig stärkere Partisanentruppe stellt für sie zwar keine Erlösung dar, ist andererseits jedoch keine große Überraschung.
Die Gefangenschaft verleiht Proska den Mut, sich endgültig zu entscheiden und sich dieser nicht näher definierten Clique Auserwählter, die er in seinen Überlegungen dafür verantwortlich macht, das deutsche Volk ins Kriegselend gestürzt zu haben, zu widersetzen. Die Gefühlslage des Protagonisten ist nicht leicht zu verstehen, er wird nicht wegen sofortiger Vorteile, die ihm der Seitenwechsel bringen kann, zum Überläufer, und auch nicht, um der Hinrichtung zu entgehen; gleichzeitig aber führen ihn zu einer aktiven Beteiligung an den Kämpfen auf der anderen Seite der Front auch nicht Sympathien für das kommunistische System, über dessen Wesen er sich keine Illusionen macht. Eine der letzten Szenen des Buches, wo Proska zufällig bei heimkehrenden deutschen Kriegsgefangenen auftaucht und bei ihrem Anblick bedauert, dass sie nicht die Kraft und vor allem die Gelegenheit hatten, sich genauso zu entscheiden wie er, trotzdem zeigt dies, dass seine Denkweise den anderen Soldaten fremd ist. Zutage tritt dies vor allem in dem Moment, wo er einen Kameraden aus seiner Einheit wiedersieht, diese Schilderung kann man gleichzeitig auch als Symbol des Bemühens der gesamten deutschen Gesellschaft interpretieren, den Krieg so schnell wie möglich zu vergessen. Wie sich anschließend zeigt, gewinnt Proska auch nicht das Vertrauen der Befehlshaber der Roten Armee, und auch sein Bemühen, sein Handeln zumindest den engsten Verwandten zu erklären, läuft ins Leere.
Der Überläufer enthält eine Reihe von unerwarteten Wendungen und spannenden Momenten. Ein Leser, der auch andere literarische Werke kennt, die an der Ostfront verortet sind, kennt einige Motive bereits und wird diese vielleicht als Klischee wahrnehmen (ein unfähiger, dafür aber umso selbstbewussterer Befehlshaber; ein nach außen zartes Mädchen, tatsächlich aber eine Partisanin, die es gewohnt ist zu töten; ein Soldat, der stirbt, ohne dass ihn die Nachricht von der Geburt seines Sohnes erreicht u. ä.), allerdings muss man berücksichtigen, dass der Romantext Anfang der fünfziger Jahre entstand, man kann also nicht behaupten, dass sich Lenz an von anderswo bekannten Motiven bedient hat. Das Hauptziel des Textes besteht trotz allem darin, die Gedankengänge aufzuzeigen, die Proska schließlich zur Roten Armee führen. Das häufigste Mittel, mit dem Lenz Proskas Gedanken zum Ausdruck bringt, sind Dialoge mit anderen Soldaten, durch die auch die inhaltlich anspruchsvollen Passagen gut lesbar bleiben, eine Reihe von erhabenen bis abstrakten Überlegungen präsentiert der Autor dem Leser in einer einfachen Sprache, wie sie unter den Soldaten üblich war.
Der Roman ist von der Handlung und vom Aufbau her in zwei Teile zu gliedern, wobei diese Gliederung auch von der erwähnten TV-Bearbeitung beibehalten wird. Der erste Teil spielt innerhalb weniger Tage und endet mit der Gefangennahme von Proskas Einheit. Gerade hier lässt sich in psychologisch überzeugender Form die Richtung verfolgen, in die die Überlegungen und Gedanken des Protagonisten laufen und wie sich Proskas Entschlossenheit formiert, die Seiten zu wechseln. Der zweite Teil widmet sich einem längeren Zeitabschnitt, im Grunde handelt es sich um eine Abfolge von frei aneinander anschließenden Episoden, an denen der Autor zeigt, welche Folgen Proskas Entscheidung für ihn persönlich hatte. Der Akt selbst, wo Proska den verantwortlichen feindlichen Offizier aufsucht und versucht, ihn von der Aufrichtigkeit seiner Absicht zu überzeugen, wird im Roman nicht beschrieben (im Unterschied zur TV-Version, wo diese Situation sehr suggestiv geschildert wird). Das Fehlen der Szene lässt eine ganze Reihe von Interpretationen zu – vielleicht wollte Lenz andeuten, dass man nie ganz in die Gedanken eines anderen Menschen hineinblicken kann? Oder wollte er nicht in eine zu detailliertere Beschreibung der internen Strukturen und Entscheidungsprozesse in der Roten Armee abgleiten? Oder hat er die Szene einfach nicht zu Ende geschrieben, nachdem die Arbeitsversion seines Romans vom Verlag abgelehnt worden war? Das werden wir wahrscheinlich nie mehr erfahren.
Ebenso kann ein interessierter Leser die Frage stellen, was der Autor damit beabsichtigt hat, dass er vielen handelnden Personen Namen gab, die mit W beginnen, doch auch hier sind wir weiterhin auf mehr oder weniger qualifizierte Vermutungen angewiesen. Sollten vielleicht die polnischen oder deutschen Namen auf W an die uralte Koexistenz des deutschen und des polnischen Elements auf dem Gebiet, auf dem die Romanhandlung spielt, zu erinnern? In diesem Falle wäre das W eine recht logische Wahl, denn das häufige Vorkommen ist für beide Sprachen – im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der anderen europäischen Sprachen – typisch. Es ist auch möglich, dass Lenz mit dem Buchstaben W auf das alte germanische Symbol der Wolfsangel verwies, das als Zeichen für den Freiheitskampf verstanden wird.
Von der Position eines materiell abgesicherten, nicht durch Krieg bedrohten und in einer Demokratie lebenden Menschen ist es sehr einfach, über einen gewöhnlichen Soldaten, der von den Mühlsteinen des größten Kriegskonflikts in der Geschichte zermalmt wurde und der trotzdem versuchte, der Stimme seines Gewissens zu folgen, zu urteilen. Viel komplizierter ist es, seine Handlungsweise zu verstehen und in der gesamten Breite die Folgen zu sehen, die die einmal getroffene Entscheidung für sein weiteres Leben brachte.
Der Überläufer ist ein Roman über das Schicksal eines Menschen, der um nichts glücklicher, besser und wohl auch nicht mutiger ist als sein Umfeld, aber doch eines Menschen, der sich nicht mit der allgemein verbreiteten Apathie abfinden wollte und von seinem Gewissen getrieben das tun wollte, was er für richtig hielt.
© Martin Liška
Der Autor ist Publizist und Historiker, Redakteur des Internetmagazins iLiteratura.
Die Buchbesprechung ist in Zusammenhang mit dem digitalen Literaturmagazin
iLiteratura entstanden.