Literatur
Paranoia und Wirklichkeit

Hermann Ungar vor 1926
Hermann Ungar vor 1926 | Foto: Unbekannte*r Autor*in, CC

Thomas Mann und Stefan Zweig waren von seinem Können beeindruckt. Trotz dieser Fürsprecher ist er bis heute weitgehend ein Unbekannter geblieben, wenn auch ein großer: Zum 90. Todestag des Schriftstellers Hermann Ungar.
 

Von Behrang Samsami

„Es ist nicht zu leugnen, daß es ein Publikum gibt, (...) das ich (…) bloß definieren kann als eine Gesamtheit von Menschen, an die es schwer ist, ‚heranzukommen‘. Schwer mit Büchern überhaupt, sehr schwer, ganz besonders schwer angeblich mit Büchern von mir.“ Die Worte, mit denen Hermann Ungar auf eine Rundfrage des Berliner Börsen-Couriers antwortet, entbehren nicht einer gewissen Ironie. Sie zeigen, dass er seine Lage gut einzuschätzen weiß – auch mit Blick auf die Zukunft. Denn heute ist Ungar in Deutschland nahezu unbekannt. Sein Name sagt – wenn überhaupt – wohl nur denen etwas, die sich für die Prager deutschsprachige Literatur interessieren, die zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938/39 entstanden ist.
 
Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel: Sie sind aus dieser Epoche die berühmtesten Autoren, die gebürtige Prager sind und auf Deutsch schreiben. Dass Ungar dagegen fast vergessen ist, hat verschiedene Gründe, wie der Germanist Dieter Sudhoff (1955-2007) einmal aufgelistet hat: Etwa die thematische Radikalität, das geringe Echo zu Lebzeiten, der frühe Tod und die geschichtliche Entwicklung in Mitteleuropa mit ihren Katastrophen. Dennoch gehört das Werk Ungars, der ein Bekannter Kafkas und Max Brods war, zum Eindrucksvollsten und, ja, Bedeutendsten, was die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.
 
Dabei ist Ungar, wie viele andere Autoren aus dem Prager Kreis, angesiedelt zwischen beziehungsweise in unterschiedlichen Lebens-, Arbeits- und Sprachwelten: Er kommt 1893 als Sohn eines jüdischen Branntweinfabrikanten und Schenkwirts im mährischen Boskowitz (Boskovice) zur Welt. Nach dem Abitur in Brünn (Brno) studiert er zunächst Orientalistik und Philosophie in Berlin und anschließend in München und Prag Rechts- und Staatswissenschaften. Im Ersten Weltkrieg kämpft er zeitweise als Soldat. Nach dem Krieg versucht er sich als Konzipient in einer Prager Anwaltskanzlei, als Dramaturg am Stadttheater in Eger (Cheb) und wieder in Prag als Bankangestellter einer deutschen Gesellschaft.
 
Zum Jahreswechsel 1920/21 geht Ungar als tschechoslowakischer Beamter nach Berlin, wechselt dann in die Handelsabteilung, wird Handelsattaché und Legationssekretär. 1928 kehrt er als Ministerialkommissar nach Prag zurück. Hier verlässt er am 10. Oktober 1929 den diplomatischen Dienst, um sich völlig seiner literarischen Arbeit hinzugeben. Am 28. Oktober 1929 stirbt er jedoch unerwartet an einer akuten Blinddarmentzündung. Ungar hinterlässt eine Frau und zwei Söhne.

Romane mit Sogwirkung

Seinem Leben als Beamter steht das des Dichters entgegen. Denn die zehn Jahre vor Ungars Tod sind auch voller publizistischer Tätigkeit. 1920 erscheint sein Erzählband Knaben und Mörder, der in Thomas Mann und Stefan Zweig begeisterte Leser findet. Seine bedeutendsten Werke sind indes die Romane Die Verstümmelten (1922) und Die Klasse (1927). Die Offenheit, mit der Ungar den Werdegang des Bankangestellten Franz Polzer in Die Verstümmelten schildert, mag ein zentraler Grund sein, warum damalige Leser geschockt reagieren. So findet Zweig Ungars Debütroman „großartig und grauenhaft, anlockend und widerlich“.

Konzentriert und sachlich erzählt, erleben wir einen Menschen, dessen Kindheit und Jugend mit ihrer Lieblosigkeit, den Misshandlungen und der Enge ihn derart traumatisiert haben, dass er seine Existenz als Erwachsener nicht anders führen kann, als im Alltag auf penible Ordnung zu achten. Als sich Klara Porges, seine verwitwete Vermieterin, da hineindrängt und auch sexuelle Ansprüche stellt, gerät Polzers Leben, das von Verfolgungsangst und einem gestörten Verhältnis zur Sexualität geprägt ist, aus den Fugen. Mit dem von ihm als irreversibel verstandenen Untergang im Chaos verbunden ist die „Verstümmlung“ seines Freundes Karl Fanta. Dieser hat eine namenlose, unheilbare Krankheit, die es erforderlich macht, ihm ein Körperteil nach dem anderen zu amputieren. Fantas wahnsinniger Pfleger Sonntag, einst Metzger und jetzt fanatischer Christ, sorgt noch seinerseits für Angst und Schrecken.
 
Die Sprache in Die Verstümmelten besitzt eine Anziehung und Sogwirkung, der sich der Leser nicht entziehen kann. Das gilt ebenso für Ungars zweiten Roman Die Klasse, der 1929 unter dem Titel Třída auch in tschechischer Übersetzung erscheint. Josef Blau, Lehrer in einer Kleinstadt, ähnelt Polzer in seinen Minderwertigkeitskomplexen: Auch Blau wittert überall das Böse, das seine Vernichtung wolle. Die Schüler seien gegen ihn und wollten ihn bloßstellen. Anders als Polzer ist Blau zwar verheiratet, aber seine Frau Selma verdächtigt er ebenfalls, gegen ihn zu agieren. Als sein Kollege Leopold die Bühne betritt, kreidet Blau ihr ein Verhältnis mit diesem an. Während der paranoide Lehrer alle Kraft aufwendet, die „Ordnung“ zu wahren, stirbt der Schüler Laub. Karpel, ein anderer aus der Klasse, sucht in seiner Verzweiflung – es geht offenbar um eine homosexuelle Beziehung – die Hilfe des Lehrers. Doch der missversteht Karpels Verhalten und sucht selbst einen früheren Schulkameraden, den Hausdiener Modlizki, auf, der im Hintergrund jedoch Böses treibt.
 
Hermann Ungars Romane sind präzise und packend erzählte (Kranken-)Geschichten, die über das Individuelle hinausgehen. Sie zeigen einsame und hilflose, psychisch und physisch „verstümmelte“ Menschen, die von den Anforderungen, die das Leben in der Moderne an sie stellt, überfordert sind, ohne Hilfe zu finden. Dass man oft nicht weiß, ob ein Ereignis so stattgefunden hat oder es sich um die Einbildung der Figuren handelt – diese „letzte Unbestimmbarkeit“, wie es Ungar einmal seinem Fürsprecher Thomas Mann gegenüber nennt –, gibt seinen Romanen mit ihren Reiz. So kann man nur hoffen, dass Autor und Werk einmal doch die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen gebührt.

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