Matthias Gnehm
Wahlverwandtschaft von Architektur und Comic
Der Deutschschweizer Matthias Gnehm ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Comic-Autoren: Der Zeichner und Szenarist arbeitet als freier Architekt und lässt diese Erfahrungen in seine Comics einfließen.
Comics und Architektur haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermutet, schließlich geht es um die Schaffung von Lebensräumen, die sowohl in der Realität als auch in der Erzählung lesbar und erlebbar sind. Umso verwunderlicher ist es, dass es so wenig Comics zum Thema Architektur im deutschsprachigen Raum gibt. Man denke im Vergleich dazu nur an die Architekturcomics von François Schuiten und Benoît Peeters aus Belgien, des US-amerikanischen Comiczeichners David Mazzucchelli oder an die architektonisch komplexen Räume des Franzosen Marc-Antoine Mathieu.
Matthias Gnehm ist in diesem Sinne ein Vorreiter in der deutschsprachigen Comicwelt. Im Gegensatz zu Schuiten und Peeters befasst sich der in Zürich lebende Autor jedoch nicht mit urbanen Parallelwelten und der Zerstörung historischer Gebäude; vielmehr legt Gnehm den Fokus auf Architektur als sozialer Raum und seine identitätsstiftende Wirkung.
Von gelebten und fiktiven Räumen
Ein Thema, das Gnehm persönlich besonders am Herzen liegt, ist die Zersiedlung seiner Schweizer Heimat. Diesem Thema widmet er sich in Die Bekehrung aus dem Jahr 2011. Ein Architekturjournalist reist nach einem Vierteljahrhundert erstmals wieder in das Dorf seiner Kindheit und erinnert sich an ein bisher verdrängtes, dunkles Kapitel seiner Jugend. Die Zugfahrt lässt ihn erneut durchleben, wie er damals mit seinen Freunden und seiner heimlichen Liebe Opfer eines evangelikalen Predigers wurde. Als er ankommt, muss er feststellen, dass sich der einst so beschauliche und übersichtliche Ort in ein Agglomerationsdorf gewandelt hat. Die Zersiedelung hat bei den Bewohnern zur örtlichen und sozialen Entfremdung geführt, genau wie seine Jugenderfahrung ihn damals von seinen Eltern und seiner Herkunft entfremdete.
Die Geschichte ist in Gnehms Heimat angesiedelt, im Schweizer Mittelland, wo er 1970 geboren und aufgewachsen ist. Dort wurde in den späten 1960er-Jahren ein angesehenes Stadtplanungsprojekt umgesetzt, das an seiner späteren Universität, der ETH Zürich, entwickelt worden war. Das Projekt scheiterte jedoch kläglich und konnte die Zersiedelung des Ortes nicht verhindern. Der sich auflösende soziale Raum eines Dorfes wird in Gnehms Comic zum Symbol für die Verlorenheit seiner Bewohner, insbesondere der Kinder und Jugendlichen.
Mit einem anderen architektonischen Phänomen befasst sich Gnehm in Die kopierte Stadt von 2014. Die Geschichte dreht sich um eine außergewöhnliche Form der Architekturaneignung: die detailgetreue Kopie von Gebäuden und sogar Stadtteilen. Der erfolglose und naive Architekt Leo Lander besucht seinen ehemaligen Studienkollegen Hans Romer in der Stadt Kunming in Südchina, wo er zum Spielball einer Intrige wird. Romer betreibt ein erfolgreiches Architekturbüro, das für einen Immobilienmogul eine Kopie der Stadt Zürich in China nachbaut.
Tatsächlich liegt in China klassische europäische Architektur im Trend, und in den Vorstädten entstehen Kopien ganzer europäischer Stadtteile und berühmter Sehenswürdigkeiten. Die kopierte Stadt stellt die Frage nach Original und Kopie. Die Unterscheidung hat in der asiatischen Kultur längst keine solche Bedeutung wie in Europa, was den Protagonisten Lander in tiefe Verzweiflung stürzt. Am Ende pendelt Lander zwischen der Schweiz und China hin und her: Er lebt zugleich im Original und der Kopie der Stadt Zürich, in derselben Wohnung und mit denselben Möbeln, und verliert dabei jegliches Bewusstsein für die Realität.
Ein Entwickler von Erzählformen und Zeichenstilen
Nicht nur aufgrund seiner Reflexion über architektonisch-gesellschaftliche Fragen jedoch ist Matthias Gnehm ein außergewöhnlicher Comiczeichner. Er entwickelt darüber hinaus für jedes Werk neue Erzählformen und Zeichenstile. Der Comic Der Maler der ewigen Portraitgalerie aus dem Jahr 2013 beispielsweise hat eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte.
In einer Züricher Galerie stellte Gnehm zunächst sechs vier Zentimeter große, schwarzweiße Pastellkreidebilder mit Porträts aus und lancierte damit ein Comicprojekt auf der dazugehörigen Website. Gegen eine Gebühr bot er den Besuchern an, sie ebenfalls zu porträtieren. Sie mussten ihm ein Foto zuschicken, Gnehm zeichnete sie und lud das Bild auf die Website hoch. Die Porträtierten erhielten das Originalbild und die Zusage, dass es in seiner kommenden Graphic Novel abgedruckt würde.
Eine unkonventionelle Finanzierung für einen unkonventionellen Comic: Manch einer würde ihn nicht einmal als Comic bezeichnen, denn in dem über 250 Seiten umfassenden Werk gibt es keine Panels oder Sprechblasen. Stattdessen finden sich auf jeder Seite ein bis vier hochformatige Bilder; die Texte stehen darunter oder daneben. In der Narration entdeckt ein erfolgloser Kunstmaler in der Fotosammlung seiner Großmutter ein eben solches, kleinformatiges Portrait von ihr. Daraufhin macht er sich auf die Suche nach den Wurzeln seiner Familie und stößt dabei auf ein bisher gut gehütetes Geheimnis der eigenen Familiengeschichte.
Eine rasante Thrillergeschichte erzählt Gnehm in seinem früheren Comic Das Selbstexperiment (2008), in dem es – wie auch in Die kopierte Stadt – um Realität und Bewusstsein geht. Der Forscher Frank Karrer will eigentlich ein Mittel gegen Eifersucht finden, entdeckt dabei aber zufällig, wie das Bewusstsein beim Menschen entsteht und funktioniert. Als er diese Erkenntnisse in einem Selbstversuch prüft, verliert er jedoch die Kontrolle über das Experiment und verirrt sich einem fremden Bewusstsein. Hochkomplexe wissenschaftliche Fragen zum Thema Bewusstseins- und Emotionsforschung verdichtet Gnehm in wissenschaftlichen Exkursen und fantastischen Spekulationen zu einem atemberaubenden Krimi, der auch philosophische Fragen streift.