TSCHECHISCHE KRIMILITERATUR
Der tschechische Krimi in Kontakt mit der Realität
In älteren Krimis spielte es eine wichtige Rolle, dass das Böse bestraft wurde und die Gesellschaft in den vor dem Verbrechen bestehenden Ruhezustand zurückkehrte. Ab den 1970er-Jahren begannen die Krimis diese Trostfunktion zu verlieren. Die heutige Popularität des Genres kommt gerade daher, dass es erstklassige Krimis schaffen, gesellschaftliche Probleme zu benennen.
Die westliche Fachliteratur etablierte vor Jahren im Bereich Krimi die Bezeichnung „tschechische Schule“. Diese entstand in den 1920er-Jahren aus der Tradition der feuilletonistischen „soudnička“ und historischen Pitavals – also inspiriert durch wahre Begebenheiten aus dem Alltag statt Sensationsromanen über Verbrechen. Blut und Grauen wurden durch Humor und Verständnis für menschliche Schwächen ersetzt. Typisch für die „tschechische Schule“ ist die Figur des klugen, die Zusammenhänge schnell erkennenden Detektivs, der sowohl von Kollegen als auch von Missetätern geachtet wird. Zu den Vertretern der „tschechischen Schule“ werden Karel Čapek und Jiří Marek, der geistige Vater von Serien-Detektiv Kriminalrat Vacátko, gezählt.
Čapeks Detektivgeschichten gelang der Durchbruch im Westen recht früh: Die englische Übersetzung erschien bereits 1932. Ins Englische übersetzt wurden auch Egon Hostovský und Josef Škvorecký, deren Geschichten die Vorstellung von der freundlichen Menschlichkeit der „tschechischen Schule“ bestätigen. Alle sind jedoch in erster Linie dem Genre unzugehörige Autoren, was typisch ist für die damalige Zeit, da der tschechische Krimi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Kontakt zu aktuellen Trends zunehmend verlor.
Der tschechische Krimi ohne Kontakt zur Außenwelt
Ungefähr ab den 1970er- und 1980er-Jahren zeigt sich das Genre international in vielen Formen: als Entspannungsliteratur ohne literarischen Wert, als solider „Mainstream“, aber auch als Spitzenliteratur, die sich einerseits aus den Romanen von Autoren der Hochliteratur (wie Škvorecký oder als banalstes Beispiel Umberto Ecos Der Name der Rose) zusammensetzt und andererseits aus Büchern von den besten Schriftstellern des Genres wie P. D. James und Henning Mankell, die sich eher an gesellschaftskritische Prosa anlehnen. Weltweit begannen sich anspruchsvollere und ambitioniertere Krimis durchzusetzen, deren Autoren in diesem Genre geschriebene Geschichten dahingehend nutzten, um über die Gegebenheiten der Gegenwart zu berichten.
Aus nachvollziehbaren Gründen war etwas Derartiges im tschechischen Krimi nicht möglich – Geschichten über die heldenhafte Arbeit von den Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit reizte seriöse Autoren nicht und auch die Leser nicht besonders. Das Genre wurde durch die Propaganda des Regimes belastet. Die besseren Autoren reagierten darauf entweder damit, dass sie literarisch in die Zeit der Ersten Republik flohen (Jiří Marek) oder Übertreibung und Individualismus hervorhoben (Kapitän Exner von Václav Erben), also Elemente, die mit dem sozialistischen Krimi unvereinbar waren. Auch deshalb wurden Krimis in Tschechien über Jahre als Entspannungslektüre wahrgenommen, der weder von Kritikern noch von erstklassigen Autoren Respekt entgegengebracht wurde. Und so ist es verständlich, dass sich in der restlichen Welt die Vorstellung von der „tschechischen Schule“ auf der Grundlage von Karel Čapek hielt.
Der tschechische Krimi in Kontakt mit der Realität
Während sich heute kaum jemand mehr einen bekannten tschechischen Krimiautor der 1990er-Jahre oder der Nullerjahre ins Gedächtnis rufen kann, hat sich die Situation in den letzten zehn Jahren verändert und Geschichten von Verbrechen in Tschechien verzeichnen einen Boom. Zahlreiche neue Autoren gaben ihr Debüt, aber auch Schriftsteller aus anderen Genres reizte nun der Krimi. Der tschechische Krimi ist jetzt ebenso heterogen wie überall sonst auf der Welt.Zu aktuellen Vertretern des Genres, die gesellschaftliche Zusammenhänge des Verbrechens thematisieren, gehört die aus Ostrava stammende Schriftstellerin Nela Rywiková. Ihre bisher zwei Romane enthalten alle Ingredienzen erstklassiger Krimis: eine interessante (und der Autorin vertraute) Umgebung, eine packende Handlung und ebensolche Figuren, soziale Überlagerungen. Schon ihr Debüt Dům číslo 6 (2013, Haus Nummer 6) fesselt durch den Handlungsort sowie die Konstellation von Menschen vom Rande der Gesellschaft, die sozial wie auch sprachlich ausgezeichnet charakterisiert sind. Rywiková verleiht ihren Figuren eine persönliche Vergangenheit und glaubhafte Psyche, es gelingt ihr, ihren Weg von jugendlichen Träumereien von einem schönen Leben bis hin zum lethargischen Dahinleben und verzweifelter Hoffnungslosigkeit darzustellen. Der Ausgang der Geschichte deprimiert durch seine Trostlosigkeit und Belanglosigkeit und bestätigt lediglich, dass Menschen die schlimmsten Grausamkeiten an den Wehrlosesten aus den banalsten Gründen begehen. Der zweite Roman Děti hněvu (Kinder des Zorns) bestätigte die Qualität ihres Debüts. Wieder in der Umgebung von Ostrava, nur ist dieses Mal das soziale Spektrum der Figuren breiter aufgestellt und das Verbrechen noch grausamer. In beiden Büchern geht es nicht nur um die Lösung von Rätseln, sie bestehen auch als Gegenwartsromane.
Aufmerksamkeit hat auch František Čech verdient, der seine Berufserfahrung in seinem Debütroman Divoký obchod (2018, Wilder Handel) literarisch verarbeitet und dem tschechischen Krimigenre nach Jahren wieder einen juristischen Thriller eingebracht hat. Die Handlung von den Hintergründen des Handels in den Gründerjahren des sogenannten Solar Business ist fest verankert in den gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten des Landes.
Der tschechische Krimi zwischen den Genres
Diese Art von Krimi stößt jedoch oftmals auf Ablehnung von Seiten der konservativen Leser, die sich nicht im Detail mit der Psyche der Figuren aufhalten wollen und die den düsteren Realismus ablehnen, da sie von diesem Genre vor allem eine unterhaltende Funktion erwarten. Glücklicherweise tragen Fernsehproduktionen viel zur Entwicklung des gesellschaftskritischen Krimis bei, wo gerade diese Form von Geschichten zu den am meisten ausgezeichneten gehört. Der tschechische Krimi ist daher schon lange kein Genre des liebenswürdigen Humors und des Verständnisses für menschliche Schwächen mehr – und er lässt sich auch nicht mehr so einfach charakterisieren wie früher.