Marx in Tschechien nach 1989
Die tote Autorität
Das Ende der kommunistischen Regierung in der Tschechoslowakei bedeutete auch die Verwerfung der kommunistischen Ideologie. Die tschechische Gesellschaft ist erst dabei, zu erkennen, dass die Bedeutung von Karl Marx die Symbolik der Plakate übersteigt, die bei den Feierlichkeiten zum Februarumsturz aufgehängt wurden.
Als in der Tschechoslowakei die kommunistische Diktatur in sich zusammenbrach, füllten 39 ab 1956 erschienene Bände der gesammelten Werke von Marx die Regale der öffentlichen Bibliotheken. Unmittelbar danach wurden diese Tonnen an Papier an vielen Orten mit einem Schlag in die Altpapiersammlungen gegeben. Wahr ist, dass sie gegen Ende der Regierungszeit der gerontokratischen KSČ (Komunistická strana Československa), der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, von kaum jemandem mehr mit Interesse gelesen wurden. Die Annahme, dass Marx’ Denken in Zukunft wohl ähnlich nützlich wie die gesammelten Werke von Leonid Breschnew oder die Äußerungen von Gustáv Husák sein würden, entstammte direkt der Rolle, die ihm das Regime zuwies. Marx war eine tote Autorität und sein Werk war gründlich als kosmisches Ei einbalsamiert worden, das zwar perfekt ist, aber auch völlig undurchlässig und absolut uninteressant. Es war allein das Regime der Normalisierung nach 1968, dem es gelang, seine zentrale Autorität vollkommen zu leerem Inhalt werden zu lassen.
Die Müllhalde der Geschichte
Wie selbstverständlich geschah es nach 1989, dass Marx auf die Müllhalde der Geschichte (und seine Bücher auf wirkliche Müllhalden) entsorgwurde. Im Westen, zu dem die Leute aufschauten – wenn auch vielleicht mehr wegen der mit Waren gefüllten Verkaufsregale als aus anderen Gründen –, war die progressivste politische Kraft damals der Thatcherismus. Der Neoliberalismus, der sich in den meisten Ländern des ehemaligen Sowjetblocks früh durchsetzen sollte, wurde als Heilmittel für die durch den Sozialismus angerichteten Schäden wahrgenommen. In diesem Kontext wurde der Vergleich mit Marx auf keinerlei Weise von der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur entkoppelt.
Als selbstverständlich erschien uns beim Blick durch dieses Prisma auch die Übereinstimmung unserer Erfahrungen mit den Erkenntnissen aus dem Westen. Im Kontext der Euphorie über „das Ende der Geschichte“ nach dem Untergang des Sowjetblocks sah es so aus, als ob auch die gesamte marxistische Tradition zum Untergang verurteilt war. Dadurch war es einfach zu übersehen, dass unsere Bestrebung, den Westen auf intellektueller Ebene einzuholen, auch noch lange danach von deutlich selektiver Natur war. In Einklang mit dem Misstrauen allem gegenüber, was nach Sozialismus roch, das Hand in Hand mit der Diskreditierung jeglicher Form von linker Politik ging, wurde denjenigen Autoritäten aus dem Ausland der Vorrang gegeben, deren Programm antikommunistisch und überwiegend auch antimarxistisch war.
Die Befreiung der tschechischen öffentlichen Debatten und der Sozialwissenschaften vom bröckeligen Panzer marxistisch-leninistischer Mantras, denen in den letzten Jahren der Normalisierung ohnehin niemand mehr glaubte, brachte Siegestänze auf dem Grab von Marx’ Lehre mit sich, bei denen allerdings sehr viel übersehen wurde. In den westlichen Ländern wurde Marx zunehmend als Gegenstand des Geschichtsinteresses behandelt und seine Beiträge in viele sozialwissenschaftliche Disziplinen eingereiht. Die Übersetzungen bis zu dieser Zeit verbotenen Kritik am Marxismus wie Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Popper oder die pamphletistischen Schriften der Ökonomen Friedrich Hayeks und Ludwig von Mises’ sind zweifelsohne auch als Begleichung offener Schulden zu interpretieren. Deren einseitige Dominanz auf intellektuellem Gebiet erweckte jedoch den verzerrten Eindruck, dass das Urteil über Marx im Westen bereits längst gefällt worden war.
Diskontinuität der Gedanken
Versuche gedanklicher Vergleiche mit der Realität nach November 1989 wurden auch schon innerhalb der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens gewagt. Ihre Auswirkung, nicht nur für die breite Masse des tschechischen intellektuellen Lebens, aber auch im Allgemeinen über die Ebene des Sichtbaren hinaus, illustriert das Schicksal der Ambitioniertesten unter ihnen am besten. Nové čtení Marxe (Marx neu lesen) von Miloslav Ransdorf wird von Forschern heute als bemerkenswerte Gedankenleistung erachtet, die die reine Bemühung, das ideologische Fadengeflecht in der politischen Praxis des nachnovemberlichen Kommunismus aufrechtzuerhalten, weit überstieg. Fakt ist jedoch, dass das Buch außer einem Kreis von Fachleuten kaum jemand kennt und nach mehr als zwanzig Jahren seit seiner Erscheinung noch immer auf eine breitere Rezeption im tschechischen Raum wartet.
Die Rettung des Vermächtnisses des tschechischen Marxismus gelang nicht einmal den bedeutenden Vertretern des marxistischen Denkens wie der 1960er-Jahre. Einige, wie Robert Kalivoda, waren bereits gestorben. Andere wiederum entfernten sich bei ihrer intellektuellen Entwicklung vom marxistischen Denken, auch wenn sie wie Karel Kosík einen kritischen Standpunkt dem Kapitalismus gegenüber bewahrten. Eine Ausnahme war Egon Bondy, der den Marxismus, wenn auch auf recht eigene Art und Weise, niemals aufgab. Seine weit über den Rand der Hauptströmung hinausgehende Position bekräftigte er nichtdestotrotz noch mit seiner Übersiedlung 1993 in die Slowakei, unter anderem auch in Folge der Aufdeckung seiner Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Dennoch wurden von Bondy bisher lediglich seine im Selbstverlag publizierten Texte und das bemerkenswerte, wenn auch stellenweise paranoid konspirative Buch Über die Globalisierung (O globalizaci) herausgegeben.Vorsichtige Rückkehr
Zur Wiederbelebung des Interesses an Karl Marx’ Werk kam es zuerst im Milieu der radikalen Linken. Ihre Ausrichtung war allerdings eine aktivistische und sie litt in der postkommunistischen Lage lange an sektiererischem Verhalten und an der unterbrochenen Kontinuität lebhafter Debatten in der eigenen Szene. Die erwähnte einseitige Orientierung des intellektuellen und verlegerischen Betriebs zeigte sich in der Beschränktheit der theoretischen Inspiration, die die radikale Linke aus eigenen, nicht gerade großen Quellen schöpfen musste. Es war notwendig, Anregungen und die Verbindung mit der Vergangenheit eher im Ausland zu suchen, in der Entwicklung der westlichen Linken, was jedoch oftmals eine anorganische Übernahme von Modellen bedeutete (und bis heute bedeutet), die eigentlich nicht wirklich zu den tschechischen Gegebenheiten passten.
Das begann sich zu Beginn der Nullerjahre deutlicher zu ändern. Der Generationswechsel, der Wegfall der unmittelbaren Konfrontation mit der vornovemberlichen Realität und der Einfluss der globalen globalisierungskritischen Bewegung, die auch Tschechien erreicht hat, wurden zu den Grundlagen für die Wiederaufnahme des Interesses an Marx und der marxistischen Tradition. 2002 kam nach vielen Jahrzehnten die erste Marx-Biografie (Karl Marx von Francis Wheen), heraus, die weder in die eine, noch in die andere Richtung ideologisch stark verzerrt war. Zwei Jahre später erschien in tschechischer Übersetzung Erich Fromms Das Menschenbild bei Marx, die erste detaillierte nachnovemberliche Auswahl von Marx’ Texten überhaupt, mit Fromms einleitenden Studien. Weitere an die marxistische Tradition anknüpfende Texte brachten die Übersetzungsaktivitäten des Bürgerverbands Socialistický kruh (Sozialistischer Kreis) hervor. Gerade zu dieser Zeit gelangte der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ins Interesse der tschechischen Öffentlichkeit, durch dessen Popularität sich in den medialen Sphären der berechtigte Verdacht einzuschleichen begann, dass westlich unserer Grenzen Marx’ Name nicht nur ein Synonym für kommunistische Diktatur ist.
Dass es Marx in Tschechien noch immer schafft, Gefühlserregungen hervorzurufen, zeigten die medialen Gewitter, die 2018 losbrachen, als anlässlich des 200. Geburtstags der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker eine Marx-Statue in seiner Geburtsstadt Trier enthüllte. Auseinandersetzungen zum Inhalt von Marx’ Vermächtnis werden in der postkommunistischen Umgebung auch weiterhin unvermeidbar sein. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, der uns vom Fall des kommunistischen Regimes trennt, sollte es jedoch leichter sein, die Auslegung des Regimes abzulehnen, das davon überzeugt war, das einzige legitime Erbe von Karl Marx gewesen zu sein.