Muss die Mauer bleiben?
Warum Berliner gegen den Teilabriss der „East Side Gallery“ protestieren – und wo sie irren
Wohl seit ihrem „Fall“ 1989 hat die Berliner Mauer die Gemüter nicht mehr so sehr erhitzt. Seit ein Unternehmer mit den Bauarbeiten für eine Luxuswohnanlage am Spreeufer im Berliner Stadtteil Friedrichshain begonnen hat, veranstalten Berliner Aktivisten Demonstrationen und Mahnwachen an der East Side Gallery. Teile des mehr als 1300 Meter langen Teilstücks der so genannten Hinterlandmauer sollen im Zuge der Bauarbeiten weichen. Die Aktivisten werfen dem Bauunternehmer Geschichtsvergessenheit vor. Zyniker fragen indessen, seit wann die Berliner so an der Mauer hängen. Die Wahrheit ist: An der East Side Gallery“ wird ein Stellvertreterkrieg geführt. Tatsächlich offenbart der Streit um den vermeintlichen „zweiten Mauerfall“, wie einige internationale Zeitungen titelten, ein großes Versäumnis der Stadt.
Ein paar Worte zur Vorgeschichte: Es geht hier um zwei Bauprojekte mit direkter Nähe zur East Side Gallery. Eines davon ist das private Projekt des Investors Maik Uwe Hinkel, der im trendigen Friedrichshain Luxuswohnungen mit Spreeblick errichten will. Das andere ist ein öffentliches Bauprojekt zum Wiederaufbau der 1945 von den Nazis gesprengten Brommybrücke. Sie soll Radfahrern und Fußgängern einen schnelleren Übergang zwischen den Stadtteilen Kreuzberg und Friedrichshain ermöglichen. Ihr Wiederaufbau geht auf einen Bürgerentscheid zurück, an dem sich fast 35.000 Bürger von Berlin-Friedrichshain beteiligt haben. Zur Umsetzung beider Projekte müssen Teilstücke der East Side Gallery weichen: Knapp acht Meter für Bauunternehmer Hinkel, mehr als 20 Meter für die Brommybrücke.
Kein Gentrifizierungsprojekt
Die Fakten kommen den Aktivisten, die gegen den Teilabriss sind, nicht unbedingt gelegen. Wer würde besser zum Feindbild taugen als ein Bauunternehmer, der mit Luxuswohnungen Geld machen will? In Berlin steigen die Mieten immer weiter, Gentrifizierung ist das Wort der Stunde. Dabei entspricht der Bau der Luxuswohnanlage, die Hinkel plant, gar nicht dem üblichen Gentrifizierungsphänomen: Die Fläche, auf der die Gebäude entstehen sollen, liegt brach. Hier werden keine Altbauten teuer renoviert, um alteingesessene Bewohner zu vertreiben und wohlhabendere Mieter anzuziehen. Fast könnte man das Gegenteil behaupten: Hinkels Bauprojekt verhindert in gewisser Weise die Gentrifizierung nach üblichem Muster, weil er neue Wohnfläche schafft, wo niemandem welche genommen wird.
Natürlich ist die Situation komplexer. Dass für das Projekt ein Teil der East Side Gallery entfernt werden soll, ist mehr als unerfreulich – auch wenn sich der Bauunternehmer verpflichtet hat, das Mauerstück so abzubauen, dass es an anderer Stelle wiederaufgestellt werden kann. Nur deshalb hat das Amt für Denkmalschutz die Baumaßnahmen für die Wohnanlage und die Brommybrücke abgesegnet. Trotzdem irren die Demonstranten, wenn sie den künftigen Eigentümern der Luxuswohnungen vorwerfen, „auf dem Todesstreifen“ zu wohnen.
Als Todesstreifen wurde die Fläche zwischen den beiden Mauerteilen bezeichnet, die Berlin 28 Jahre lang auf brutale Weise trennten, und auf der mindestens 136 Menschen starben. Dieser Todesstreifen verlief an der innerdeutschen Grenze, nicht dort, wo heute die East Side Gallery steht. Die von 118 Künstlern bemalte Fläche ist Teil der so genannten Hinterlandmauer: Sie stand mitten in Ostberlin und diente als Absperrung zur Spree hin. Wer sie erfolgreich überquert hätte, wäre weder auf dem Todesstreifen gewesen noch hätte er es in die Westberliner Freiheit geschafft.
Die Demonstranten messen mit zweierlei Maß
Ginge es ihnen wirklich um die Erinnerungskultur, könnte man den Demonstranten die Geschichtsklitterung verzeihen. Denn wahr ist auch: Die East Side Gallery ist das einzige Originalstück der Berliner Mauer in nennenswertem Umfang. Es ist ein riesiges Ärgernis, dass nach der Wiedervereinigung kein längeres Stück der Berliner Mauer erhalten wurde, das am Originalschauplatz ihrer Opfer gedacht hätte. Trotz vieler gelungener Kunstbeiträge auf der East Side Gallery verklärt diese seit Jahren die Mauer zum mehr nostalgischen als historischen Ort, vor dem sich jährlich Hunderttausende Touristen fotografieren lassen wie bei einem Ausflug nach Disneyland. Dass sie als Gedenkstätte nie ernst genommen wurde, zeigen die unzähligen Schmierereien auf der Wand.
Daran hat sich all die Jahre ebenso niemand gestört wie an der Tatsache, dass bereits in der Vergangenheit mehrere Teilstücke aus der East Side Gallery herausgelöst wurden, um Zugänge zu Strandbars und einem Hostel zu schaffen. Das mit 40 Metern längste Stück wurde 2006 entfernt, um den Besuchern der neugebauten O2-Arena eine freie Aussicht auf die Spree zu ermöglichen. Das war ein handfester Skandal, der aber erstaunlicherweise keinen Massenprotest zur Folge hatte.
Die Leute, die heute an der East Side Gallery demonstrieren, vermischen verschiedene Probleme, die Berlin hat. Der stiefmütterliche Umgang mit Gedenkstätten ist dabei der entscheidendere als der Bau von Luxuswohnungen – zumindest in diesem konkreten Fall.