Leben

Detroit rackert härter

Iveta ČernáBienenhäuser mitten in der Stadt. © Iveta Černá

Bienenhäuser mitten in der Stadt. © Iveta Černá

Detroit halten viele für den Wilden Westen der Gegenwart. Zehntausende leere Grundstücke, auf denen das Gras kniehoch wuchert, wecken Erinnerungen an Zeiten, als der amerikanische mittlere Westen hauptsächlich von Prärien bedeckt war; die Preise der verlassenen Immobilien sind ins Bodenlose gestürzt und Gesetze können einfach umgangen werden, weil es niemanden gibt, der ihre Einhaltung kontrolliert. Das ist aber nur das eine Gesicht dieser Stadt, die bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Zentrum der amerikanischen Automobilindustrie war.

Obwohl Detroit Jahrzehnte des Niedergangs hinter sich hat und mit der Einsetzung eines Krisenmanagers sowie der darauf folgenden Insolvenz in diesem Jahr den absoluten Tiefpunkt erreicht war, ist die Atmosphäre in der Stadt faszinierend. Nach Detroit kommen junge Leute und Künstler, angezogen von der Möglichkeit, sich an der Umgestaltung der Stadt zu beteiligen. Kleine Firmen und Betriebe suchen hier Inspiration und versprechen sich einen einfachen Start an einem Ort, wo die Konkurrenz noch nicht allzu groß ist. Und auch große Unternehmen zieht es in die Stadt, angelockt von niedrigen Büromieten in den Wolkenkratzern der Innenstadt und dem zukünftigen Potenzial einer sich neu orientierenden Stadt.

Am sichtbarsten ist in der „Autostadt“ allerdings das Bestreben „normaler“ Menschen und gemeinnütziger Initiativen, die Stadt wieder auf Vordermann zu bringen und die lokale Wirtschaft zu unterstützen. Jahrzehntelange städtische Misswirtschaft und politische Korruption, die Probleme der Autoindustrie, ein fehlendes Konzept für die Stadtentwicklung, Entvölkerung – das alles hat die Einwohner dazu gezwungen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Für Detroit legt sich hier jeder ins Zeug, der finanziell dazu auch nur ein bisschen in der Lage ist. Während weniger Wochen in dieser Geisterstadt – wie Detroit in den Medien genannt wird – haben mich die Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichen Organisation überzeugt, dass in Detroit noch lange nicht das letzte Wort gesprochen wurde.

So sieht die selbstorganisierte Mülltrennung aus. © Iveta Černá

„Recycle here“: So sieht die selbstorganisierte Mülltrennung aus. © Iveta Černá

Kleineren, „von unten“ initiierten Projekten, die sich nicht nur auf die Tätigkeit der offiziellen Behörden verlassen, gelingt es nach und nach, das Gesicht der Stadt zu verändern. Alteingesessene Bewohner, mit denen ich die Möglichkeit hatte zu sprechen, bestätigten, dass es in Detroit schon lange nicht mehr eine solche Aufbruchsstimmung gab wie in den vergangenen Jahren.

So nutzt beispielsweise die Stadtgartenbewegung leer stehende Parzellen, wodurch grüne Inseln entstehen, die den Viertelbewohnern als Treffpunkt dienen. Interessant ist auch das Projekt Sit on it, das sich ebenfalls mit dem öffentlichen Raum auseinandersetzt. Mit Hilfe von Spenden stellen zwei Studenten der Stadtplanung aus gefundenem Holz kleine Sitzbänke mit integriertem Bücherregal für leere und öde Bushaltestellen her. Ein weiteres Beispiel für Bürgerengagement ist das Wiederverwertungszentrum Recycle Here, das heute von der Stadt gesponsert wird. Es entstand vor acht Jahren als Initiative mehrerer Nachbarn, denen die Möglichkeit fehlte, ihren Müll getrennt zu entsorgen.

Motor City oder Bike City

Wer sich außerhalb des Stadtzentrums bewegt, das im Vergleich zu anderen amerikanischen Großstädten nicht besonders groß ist, bekommt auf den ersten Blick den Eindruck, dass die Epoche des Autos vorbei ist. Auf den breiten, mehrspurigen Straßen roll nur gelegentlich ein Auto daher, und auch auf den Hauptverkehrsadern ist der Verkehr relativ ruhig. Zu Boom-Zeiten ist Detroit vor allem durch den Ausbau niedriger Einfamilienhäuser gewaltig expandiert; sich in diesem ausgedehnten, amorph wirkendem Stadtgebiet zu Fuß fortbewegen zu wollen, ist utopisch. Hinzu kommt, dass dem öffentlichen Nahverkehr niemand vertraut, so dass die sporadisch fahrenden Busse, die sich oft nicht an die Fahrpläne halten, nur von den ganz Armen benutzt werden.


Für viele stellt deshalb das Fahrrad eine Alternative da, und die Fahrradkultur gedeiht in der „Motor City“ prächtig. In verschiedenen Stadtteilen entstehen Fahrradläden mit umgebauten Drahteseln und Werkstätten, wo auch mit lokalpatriotischen Sprüchen wie „Detroit Hustles Harder“ (etwa: „Detroit rackert härter“) bedruckte Modeaccessoires angeboten werden. Während der Sommermonate kann man darüber hinaus nahezu täglich an halborganisierten Fahrradtouren teilnehmen, die von einer der örtlichen Organisationen angeboten werden. Dabei radelt man durch die Stadt und entdeckt Sehenswürdigkeiten, Kneipen, Stadtgärten oder man fährt über die Brücke nach Kanada. Und jedes Mal ist es ein Erlebnis.

Im Sattel die Stadt erkunden

Eine dieser Aktionen ist in den vergangenen Jahren allerdings zu einem richtigen Phänomen geworden: die Slow Rolls, die von einer Gruppe von Leuten organisiert werden, die sich „Bikes and Murders“ nennen. Die Slow Rolls nahmen ihren Anfang vor ein paar Jahren als Freizeitspaß einiger Freunde. Mit der Zeit ist daraus jedoch eine starke Radler-Community erwachsen, und jetzt nehmen an den regelmäßigen Fahrradtouren hunderte von Menschen teil. Den ganzen Sommer findet dann jeden Montagabend auf den Detroiter Straßen eine von Entdeckergeist geprägte Fahrradparty statt, die auch eine klare Botschaft hat: das Leben in Detroit kann ganz angenehm sein.

Startpunkt und Strecke dieser Touren wechseln von Woche zu Woche, damit die Detroiter, aber auch diejenigen, die aus den Vororten und anderen Städten im Südosten Michigans zum Slow Roll angereist kommen, jedes Mal eine andere Ecke der Stadt kennenlernen. Mit einem Fahrrad im Kofferraum im Auto in die Stadt zu fahren, nur um dann mit vielen anderen durch die Stadt zu radeln, mutet relativ bizarr an. Aber die von den Fahrrad-DJs verbreitete Partystimmung und die atemberaubende Szenerie bei der Fahrt zwischen verlassenen Häusern und Fabrikhallen, die in der Abenddämmerung das Bild der unbeleuchteten Straßen dominieren, sowie das pulsierende Straßengeschehen in den Schwarzenvierteln, all das schafft eine Atmosphäre, die die Leute dazu veranlasst, statt in die Kneipe zu gehen, sich auf das Rad zu schwingen und sich mit Freunden unterhaltend durch die Stadt zu radeln. Die Abschlusspartys, die ein fester Bestandteil des Slow Roll sind und die ebenfalls an wechselnden Orten stattfinden – mal in einem Bowling-Zentrum, mal unter der Skulptur des „Denkers“ von Rodin oder als „Block Party“ mit DJs und hausgemachten Hotdogs – bieten eine erstklassige Gelegenheit befreundete Projekte vorzustellen.

Unterwegs auf einer „Slow Roll“-Stadttour. © Iveta Černá

Unterwegs auf einer „Slow Roll“-Stadttour. © Iveta Černá

In Detroit, wo die Rassen-Segregation die Gesellschaft in zwei Teile getrennt hat, haben solche Veranstaltungen eine viel größere Bedeutung als anderswo. Die Organisatoren des Slow Roll suchen für die einzelnen Fahrten jeweils nach neuen Themen; dadurch passiert es oft, dass sich die Radler-Masse durch kleine Straßen drängt, in die man als Einzelner keinen Grund oder keinen Mut hätte zu fahren. Während des Slow Roll auf den Spuren der „Motown Records“ (eines der bedeutendsten Platten-Labels für schwarze Musik des vergangenen Jahrhunderts), habe ich eine ganze Reihe von Detroitern sagen hören, dass sie in bestimmten Stadtteilen, die mit den Rädern durchfahren wurden, noch nie waren. Ich hatte den Eindruck, dass die Möglichkeit, Detroit in allen seinen Facetten kennenzulernen, für alle Teilnehmer des Slow Roll genauso attraktiv war, wie das Bier und die Pizza nach der Zielankunft.

Iveta Černá
Übersetzung: Ivan Dramlitsch
 
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Oktober 2013

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