Hallo, Europa am Apparat!
Wie wäre ein Europa, in dem ihr gerne leben würdet? Vereinigt oder geteilt? Größer oder kleiner? Fester oder freier? Oder gefällt es euch so, wie es jetzt ist? Denkt nach. Ihr habt dreißig Sekunden für die Antwort. Drei. Zwei. Eins. Los.
Am Ausgang des Prager Goethe-Instituts steht eine Telefonzelle mit blauem Vorhang. Auf den ersten Blick würde sie wohl niemand bemerken, wenn sie nicht immer wieder von selbst klingeln würde und die Frauenstimme des Automaten die Vorübergehenden aufforderte, mit ihm Gedanken, Kritik und Visionen über die Zukunft Europas zu teilen. „Ich würde das gerne denen da oben ins Büro stellen, so kann man hier nicht arbeiten“, beschwert sich die Pförtnerin, als der gerade vorbeispazierende Herr Zenon beschließt, sich mit dem Automaten zu unterhalten.
Er kommt aus der Ukraine, genauer gesagt von der Krim. Statt in die Ukraine nach Russland zurückkehren zu müssen, kann er sich nicht vorstellen. Er wünscht sich, dass Europa wohlgesonnener wäre gegenüber Menschen, die ein anderes Alphabet benutzen und das lateinische gerade erst lernen: „Der Großteil der europäischen Tastaturen kennt das kyrillische Alphabet gar nicht, und das ist dann extrem schwierig“, erklärt er. In Prag ist er als Arbeiter auf Baustellen tätig, eine niedrigschwelligere Kommunikation mit den Ämtern würde ihm die Suche nach einer anderen Arbeit erleichtern.
Da kommt die fünfundzwanzigjährige Nikola vorbei. Sie studiert noch, deshalb schätzt sie an der Europäischen Union insbesondere die allen zugängliche Möglichkeit eines Auslandsstudiums. Die Installation der europäischen Telefonzelle – des Europhones – gefällt ihr und sie ist gespannt, wie es damit weitergeht. „Wenn von diesem Projekt mehr Leute wüssten, würden sie hier sofort Schlange stehen. Die Tschechen haben es im Blut, sich zu beschweren“, lacht Nikola. Die Telefonzellenstimme ruft die Passanten nämlich dazu auf, alles zu sagen, was sie im Zusammenhang mit der Europäischen Union auf dem Herzen haben.
Erlebe die Zukunft
Das Künstlertrio Interrobang aus Berlin stellte sich vor einiger Zeit die Frage, was passieren würde, wenn jeder die Möglichkeit hätte zu beeinflussen, was in Europa geschehen soll und wie. Deshalb entwickelten die Künstler das Europhone. Mit dem Formulieren von Zukunftsvorstellungen haben sie bereits Erfahrung – ihr Spezialgebiet ist nämlich das sogenannte pre-enactment. Im Gegensatz zum „re-enactment“, welches versucht, ein Neuerleben von Ereignissen zu vermitteln, die bereits geschehen sind, wie beispielsweise Kriege, Revolutionen und andere historische Wendepunkte, ermöglicht das pre-enactment ein Erleben von Dingen, die noch nicht geschehen sind. Bislang machten Menschen in Prag, Dresden und dem polnischen Stettin mit dem Europhone Bekanntschaft. Die im Automaten mitgeschnittenen Antworten verwenden Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug und Lajos Talamonti für ihr neues Theaterstück Preenacting Europe. Ende Mai findet die Premiere des interaktiven Stücks in Berlin statt, im Herbst bringt das Prager Theater Archa eine an das tschechische Publikum angepasste Version auf die Bühne.
„Wir sind kein klassisches interaktives Theater, wir holen keine Zuschauer aus dem Publikum aufs Podium“, erläutert Till Müller-Klug die Philosophie der Gruppe Interrobang. In einem der letzten Projekte, Sprachlabor Babylon, experimentierten sie mit der Idee der Wortschatzprivatisierung. Die Leute im Publikum bekamen Mikrofone und konnten sich neue Wörter für verschiedene Situationen ausdenken. Im Laufe des Stücks erhoben die Künstler dann für den Gebrauch bestimmter Ausdrücke Gebühren. Wer in Zeiten privatisierter Sprache mit anderen reden möchte, würde sich dafür spezielle Sprachpakete einkaufen müssen, etwa Plaudertasche oder Spardeutsch. Andererseits entfiele das anstrengende Erlernen von Fremdsprachen und Kommunikationsbarrieren lösten sich auf. Oder nicht?
Euro-Schwarm oder Lottokratie?
Das Projekt Preenacting Europe will ergründen, was aus der Europäischen Union würde, hätten ihr Schicksal eben die Menschen in der Hand, die in ihr leben und ihre Repräsentanten ins Europäische Parlament wählen. Das Stück soll folgendermaßen aussehen: Zu Beginn wählt das Publikum in demokratischer Abstimmung aus zwei Möglichkeiten ein neues politisches System. Das System „Euro-Schwarm 3.0“ ermöglicht, dass sich an den Abläufen in der EU jeder, der will, direkt beteiligten kann. Es handelt sich dabei um eine freie und sehr radikale Auffassung von direkter Demokratie, die auf der Bereitwilligkeit und Urteilsfähigkeit der Einwohner aufbaut. Genau das möchte das andere zur Wahl stehende System vermeiden, die sogenannte „Lottokratie“. Hier wird jede Entscheidung per Los getroffen. Wer besetzt den Präsidentenposten? Wird der Haushalt verabschiedet? Wie hoch ist der Mindestlohn? Wird die EU aufgelöst?
Sobald das Publikum ein System gewählt hat, kommt die Lösung ganz konkreter Probleme an die Reihe und Entscheidungen über gesamteuropäische Belange. Schritt für Schritt, oder Los für Los. Solidarität. Investitionen. Zusammenarbeit. Ob die Europäische Union pleitegeht, aufgelöst wird oder eine „Europhorie“ erreicht, hängt allein von den Zuschauer-Wählern ab, ihrem Willen, an einem Strang zu ziehen und ihrer Fähigkeit, sich richtig zu entscheiden.
Übersetzung: Lena Dorn
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag