Die EU ist unverzichtbar
Ein junger Wissenschaftler versucht, den Erfolg der EU in internationalen Klimaverhandlungen messen
Andreas Isensee hat eine Doktorarbeit über die Europäische Union als Akteurin in internationalen Verhandlungen geschrieben. Am Beispiel globaler Klimaverhandlungen lasse sich die Unverzichtbarkeit der EU zeigen, argumentiert der 31-Jährige. Für die Öffentlichkeit sei dieser Erfolg allerdings oft nicht erkennbar. Im Interview spricht er über die schwierigen Verhandlungen zum globalen Klimaschutz und über Anreize, die die EU schaffen kann.
Wie darf man sich das eigentlich vorstellen: Die EU, die ja aus 28 Mitgliedsstaaten besteht, als Verhandlungsakteurin?
Das ist tatsächlich sehr komplex. Man kann sich dazu ein Schild vorstellen, auf dem „Europäische Union“ steht. Dahinter sitzen zwei Personen: Eine für die Europäische Kommission und eine für den Europäischen Rat, der in der EU die Interessen der Mitgliedsstaaten vertritt. Es gibt also ein Mikrofon, aber zwei Verhandler. Bei der EU kommt es immer auf die Zuständigkeit an. Wenn die Zuständigkeit sowohl in den Bereich der EU fällt als auch in den der Mitgliedsstaaten, sind beide Parteien vertreten. Die Kommission vertritt eben die EU an sich, der Rat der EU vertritt die Mitgliedsstaaten, tritt aber dennoch hinter dem EU-Schild auf. In diesem Punkt unterscheidet sich die EU von allen anderen Verhandlungsparteien, also den anderen Staaten, zu denen auch alle 28 EU-Mitgliedsstaaten zählen. Das macht die Sache noch zusätzlich interessant, denn zum Beispiel Deutschland oder Tschechien sind beide bei den EU-Klimaverhandlungen als Staaten vertreten, gleichzeitig aber auch als Teil dessen, das sich hinter dem Schild „Europäische Union“ verbirgt. Das kann natürlich zu Interessenkonflikten führen.
Kommt es denn häufig vor, dass die EU andere Ziele verfolgt als die Mitgliedsstaaten?
Eine sehr gute Frage, weil sie nämlich zur Frage führt: Wer ist eigentlich die EU? Und: Hat die EU ein Eigeninteresse?
Ein Eigeninteresse in der EU hat, wenn überhaupt, die Europäische Kommission. Die Kommission versteht sich als Hüterin der Verträge, das heißt, sie ist dafür zuständig das umzusetzen, was sich die Mitgliedsstaaten als Primärrecht, also Verträge, gegeben haben – und zwar ohne Ansehen der Größe des Mitgliedsstaates. Die Kommission versucht also, aus dem, was in den Verträgen steht, eine Art europäischer Position zu generieren – und zwar unabhängig von nationalen Interessen. Das führt natürlicherweise zu Spannungen, weil die Nationalstaaten oft unterschiedliche Vorstellungen haben.
Gibt es dafür ein konkretes Beispiel?
Letztes Jahr zum Beispiel fand die Vertragsstaatenkonferenz in Polen statt, das die EU-Ratspräsidentschaft innehatte. Polen hatte natürlich als EU-Mitglied die Verpflichtung, sich EU-konform zu verhalten. Das hat es auch weitgehend getan. Trotzdem hat Polen ein extrem starkes Eigeninteresse. In Polen werden etwa 90 Prozent des Stroms aus Kohle gewonnen, erstens, weil das der heimische Energieträger ist und zusätzlich, weil man wegen der traumatischen Erfahrung der Vergangenheit sich unabhängig machen möchte von Gasimporten aus Russland. Die von der EU vorgesehene Treibhausgasreduzierung lässt sich jedoch kaum anders umsetzen als durch eine Reduzierung des Kohleanbaus. Das führt allerdings in Polen zu heftigem Widerstand. Deswegen hat Polen während des Klimagipfels gleichzeitig einen Kohlegipfel organisiert mit Vertretern der Kohleindustrie und entsprechenden Sympathisanten. Von der EU wurde das als unfreundlicher Akt interpretiert, weil man die eigenen Klimaschutzversprechen konterkariert sah und die EU sich selbst als Vorbild im Klimaschutz versteht.
Der Vertrag von Lissabon sieht mit der Schaffung eines Quasi-Außenministeriums für die EU, dem Europäischen Auswärtigen Dienst, ja eine gemeinsame Außenpolitik vor. Lässt sich bei den Klimaschutzverhandlungen seit dem Vertrag von 2011 eine einheitlichere EU-Linie beobachten?
Die Frage lässt sich unterschiedlich beantworten. Auf der technischen Ebene hat sich die EU mittlerweile einen Ruf erarbeitet als Akteurin mit großer Verhandlungsexpertise. Das wird international auch so anerkannt. Diese Ebene bleibt der Öffentlichkeit jedoch weitestgehend verschlossen. Auf der Ebene der Öffentlichkeit hingegen kann die EU nur in dem Maße verhandeln, wie die Nationalstaaten sie gewähren lässt – trotz der neuen Verträge.
Ich kann dazu einen Witz erzählen, den die Außenbeauftragte gelegentlich erzählt. Es gibt ja die berühmte Frage Henry Kissingers, ob Europa endlich mal eine Telefonnummer haben könne, um dort anzurufen, wenn er mit Europa sprechen wolle. Bisher lautete die Antwort auf die Frage immer Nein, weil Europa keine eigene Telefonnummer hat. Jetzt ist es so, dass es eine Telefonnummer gibt. Wenn man anruft, hebt allerdings keine Person ab, sondern ein Anrufbeantwortet. Und der Anrufbeantworter sagt: „Herzlich Willkommen bei der Europäischen Union. Hier ist die Stimme Europas. Für die Stimme Frankreichs drücken Sie bitte die Eins. Für die Stimme Deutschlands bitte die Zwei.“ Und so weiter.
Glaubst du, dass das auch an der wachsenden Euroskepsis in vielen europäischen Staaten liegt?
Das kann sein, und dieser Trend kann sich in den nächsten Jahren auch noch verschärfen. Allerdings gibt es noch einen anderen Grund. Wenn es um die Außenpolitik geht, geht es ans Eingemachte der nationalen Souveränität. Man darf ja nicht vergessen, dass viele Mitgliedstaaten bis vor 20 Jahren gar keine eigene Außenpolitik hatten, weil sie hinter dem Eisernen Vorhang waren und um es salopp zu sagen, nach der Pfeife Moskaus tanzen mussten. Jetzt sind sie nicht gewillt, die Pfeife einfach dem nächsten in die Hand zu geben und Außenpolitik nach Brüsseler Vorgaben zu machen. Auf der anderen Seite haben die westlichen EU-Staaten schon deutlich länger ihre eigene Außenpolitik. Dort besteht, gerade bei den großen Ländern mit ihrer außenpolitischen Tradition, keinerlei Bedürfnis, sich von EU sagen zu lassen, was zu tun ist. Das Interessante ist, dass die kleineren Mitgliedsstaaten viel eher bereit sind, der EU außenpolitisch bestimmte Rechte zuzugestehen, weil sich die Hebelwirkung bei dem, was sie in der Welt bewirken können, durch die EU natürlich erheblich verstärkt. Wenn die Slowakei oder Dänemark in internationalen Verhandlungen mit EU-Stimme auftreten, dann hat das natürlich ein ganz anderes Gewicht, als wenn sie dort als Slowakei oder Dänemark auftreten.
Was will die EU – oder die Europäische Kommission – denn eigentlich in der Klimapolitik?
Das wichtigste Ziel der EU ist es, möglichst zügig – das heißt in diesem Fall, bis 2015 – einen globalen Klimaschutzvertrag zu verabschieden, der das bis jetzt geltende Kyoto-Protokoll ablöst und zwar dahingehend, dass sämtliche Staaten der Welt ganz konkrete Minderungsziele vereinbaren. Der Grund für diese Zielsetzung der EU ist, dass man immer mehr wissenschaftliche Belege dafür hat, dass die Erwärmung des globalen Klimas in erster Linie menschengemacht ist. Es gibt einen weitgehenden wissenschaftlichen Konsens, dass die Erwärmung nicht mehr als 2 Grad Celsius oberhalb des präindustriellen Levels liegen darf, also dem Niveau von 1850, um zu verhindern, dass es Rückkopplungseffekte gibt, die nicht mehr beherrschbar sind. Das 2-Grad-Ziel ist auch international anerkannt, und die EU ist dafür, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel auch wirklich einzuhalten.
Über welche Sanktionsmöglichkeiten verfügt die EU denn, um andere Staaten zur Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen zu bewegen?
Wenn man innerhalb des Rahmens der Klimaschutzverhandlungen bleibt, im Prinzip über keine. Denn es gilt das Prinzip des Vetospielers. Dadurch dass jeder Vertrag einstimmig beschlossen werden muss, hat jedes Land die Möglichkeit, alles zu stoppen. Innerhalb des Klimaschutzregimes gibt es eigentlich keinerlei Sanktionsmöglichkeiten. Man könnte aber entsprechende vereinbaren, indem man einen Vertrag verabschiedet, in dem steht, dass es Sanktionen gibt. Bisher können aber keine vertraglichen Abmachungen eingeklagt werden – Sanktionsmöglichkeiten bestehen eher zukünftig.
Allerdings ist es erfahrungsgemäß ohnehin besser, eher unwilligen Staaten Anreize zu verschaffen, mit der EU zusammenzuarbeiten und dann auf Feldern, die nichts direkt mit dem Klimaschutz zu tun haben, Vorteile zu eröffnen. Zum Beispiel könnte es die Möglichkeit geben, manche Staaten in die Welthandelsorganisation aufzunehmen oder die Entwicklungszusammenarbeit mit manchen Staaten ausbauen. Es gibt zum Beispiel innerhalb des Klimaschutzregimes die Forderung der Entwicklungsländer, einen grünen Klimafonds zu eröffnen, der jährlich – von den Industrieländern – mit mehreren Milliarden Dollar ausgestattet wird und der Klimaschutz- und Anpassungsprojekte umsetzen soll. Wenn die Industriestaaten diesem Fonds zustimmen, gibt es eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Entwicklungsländer einem internationalen Klimaschutzvertrag zustimmen. Die Sanktionsmöglichkeit könnte darin bestehen zu sagen: Wir werden das Geld natürlich nur dann aktivieren, wenn es auch einen Vertrag gibt. Ohne Vertrag kein Geld, aber ohne Geld auch kein Vertrag.
Was wäre denn, wenn die EU bei den Klimaschutzverhandlungen nicht dabei wäre? Oder noch simpler ausgedrückt: Braucht man sie überhaupt?
Grundsätzlich könnte man sicherlich auf sie verzichten, weil die anderen Staaten auch ohne die EU klarkommen. Außerdem waren die Klimaschutzverhandlungen bisher, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht so erfolgreich. Allerdings hat sich die EU inzwischen den Ruf erarbeitet, nicht nur intern die Meinungen zusammenzubinden, sondern auch deutlich über die Gräben, zum Beispiel zwischen Nord und Süd, hinweg zu verhandeln. Das macht sie zu einem Akteur, der absolut unverzichtbar ist. Das bezieht sich auf die technische Ebene und ist weniger präsent auf der Ebene, die für die Öffentlichkeit sichtbar ist. Ohne die EU halte ich es für sehr gut möglich, dass die Klimaschutzverhandlungen schon jetzt gescheitert wären.