Die coole Hölle Europa
Der Schriftsteller Robert Menasse sieht die Regierungen der Nationalstaaten als das eigentliche Problem europäischer Krisen. Er fordert deshalb das Überdenken Europas und die Erfindung einer neuen, europäischen Demokratie.
Wer das nächste Mal über die Europäische Union schimpft, soll zuerst nachdenken. Etwa darüber, dass die EU für die Verwaltung des gesamten Kontinents weniger Beamte benötigt als die Stadt Wien alleine. Oder darüber: Während man in Deutschland oder Österreich von „Verwaltung“ spricht, ist auf EU-Ebene nur noch von „Beamtendiktatur“ die Rede, die nationale „Gesetzgebung“ wird überhaupt zum „Regulierungswahn“. Und Bürger eines Landes, die ihren PKW bei der TÜV überprüfen lassen und Mitglied beim ADAC sind, kritisieren die Europäische Union für ihren Abkürzungswahn und ihre Akronyme, unter denen man sich nichts mehr vorstellen könne.
Viele gängige Vorurteile und Klischees über die Europäische Union halten einer genauen Überprüfung nicht stand. Dies nimmt der österreichische Autor Robert Menasse in seinem Buch Der europäische Landbote als Ausgangslage. Er spricht vom bürokratischen Labyrinth Europa und dem undurchsichtigen Beamtenapparat, die Krise Europas bezeichnet er als eine Krise der Kultur in Brüssel.
Kompetent, freundlich, qualifiziert
Menasse reist daraufhin in die europäische Hauptstadt. Ursprünglich wollte er für einen Roman recherchieren, dessen Hauptfigur ein europäischer Beamte sein sollte. Gekommen ist es alles ganz anders. Aus dem Roman wurde nicht nur ein Essay, Menasse hat in Brüssel auch ganz andere Menschen getroffen als angenommen. Er erlebt eine Überraschung nach der anderen. Er traf freundliche, motivierte und gut ausgebildete Beamte, offene Türen, kompetente Informationen und eine sparsame und bescheidene Bürokratie.
Trotz all der positiven Erfahrungen kommt er zu dem Schluss, dass vieles anders sein könnte. Menasse ist nämlich der Meinung, dass alles es wert sei, kritisiert zu werden, auch oder vor allem die Europäische Union. Immerhin sei diese „die coolste aller Höllen auf Erden“.
Menasse zieht ein klares Fazit: Nicht die EU an sich ist das Problem, sondern die Nationalstaaten, die den Weg und den Fortschritt versperren. Die Krise entstehe nicht in Brüssel, sondern in den einzelnen Staaten. Die nationalen Regierungen würden die Populismus-Keule schwingen und dadurch die ursprünglichen Ideen eines gemeinsamen, demokratischen Europas unterschlagen. Das wiederum führe zu wirtschaftlichen und politischen Krisen.
Es braucht eine „nachnationale“ Demokratie
Zufrieden und krisenfrei könne man erst dann sein, wenn Bürger wie Politiker verstehen, dass die Verteidigung nationaler Identitäten und Interessen nicht so viel Fortschritt und Erfolg bringt wie die Europäische Union als Gesamtes. Menasse ist ein Befürworter der regionalen Selbstverwaltung, denn nur in den Regionen, die durch Dialekte, Sprache, Traditionen oder etwa die Geschichte geprägt sind, fühle sich der Bürger wirklich wohl und zu Hause. Ein Wiener aber hätte möglichweise auch in Vorarlberg keine Heimatgefühle. Und auch das Demokratiedefizit auf EU-Ebene komme nur daher, dass wir wie selbstverständlich annehmen, es müsse eine Verbindung von Nationalstaat und parlamentarischer Repräsentanz geben.
Aus diesem Grund plädiert Menasse eine neue Form der Demokratie. Er fordert eine „nachnationale“ Demokratie, in der für Europa europäische Entscheidungen getroffen werden und keine nationalen wie derzeit. Nur so wäre Europa vor dem Untergang gefeit.
Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Paul Zsolnay Verlag, 128 Seiten
Auszüge aus dem Buch gibt es auf fluter.de dem Jugenmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung.
Das Buch ist unter dem Titel Evropský systém – Občanský hněv a evropský mír auch auf Tschechisch erschienen.