Europa ohne die EU
EU-Kritikerin Ulrike Guérot will den Populisten das Wasser abgraben. Ihr Vorschlag: Eine Republik Europa, ganz ohne Nationalstaaten.
Die Professorin mit dem roten Haarschopf braucht nicht lange, bis sie sich in Rage geredet hat. „Wir befinden uns in Europa mitten in einer Dystopie“, sagt Ulrike Guérot während des Skype-Interviews. Von der EU ist sie enttäuscht: Zu komplex, nicht mehr reformierbar, ein System, das Krisen produziert, anstatt sie zu lösen. Damit will sich die Politikwissenschaftlerin jedoch nicht abfinden. In ihrem Buch Warum Europa eine Republik werden muss! beschreibt sie, wie ein Kontinent aussehen könnte, der keine nationalen Regierungen mehr braucht. Eine europäische Republik, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben. Sie nennt es selbst eine politische Utopie – aber sie glaubt auch daran, dass wir Europäer das Zeug haben, sie zu verwirklichen.
Ulrike Guérot hat 25 Jahre lang für die EU und politische Thinktanks gearbeitet, „Policy Paper über Policy Paper geschrieben“, wie sie sagt. Aus Überzeugung für das europäische Projekt, für offene Grenzen und Einheit in der Vielfalt. Ihr Traum von der Europäischen Union endete an einem Montagmorgen im April 2012 in der Eingangshalle des Europäischen Rates. Die Finanzkrise in Zypern war auf dem Höhepunkt. „Und dieses Gebäude war so blutleer, dass mir schlagartig klar wurde: So funktioniert das alles nicht.“
„Ich habe mich gefragt, wofür ich eigentlich mein Leben verschwendet habe.” Mehr als zwei Jahrzehnte glaubte Guérot, für eine Union zu arbeiten, die immer weiter zusammenwächst. „Und dann realisierte ich, dass das nicht passieren wird. Ich war wütend. Und wie geht man mit Wut um? Man macht eine teure Psychotherapie oder man schreibt ein Buch!“
Europa der Bürger, nicht der Banken
Darin beschreibt sie schonungslos, was ihrer Meinung nach falsch gelaufen ist. Die Europäischen Union sei zwar ein Binnenmarkt geworden, jedoch keine solidarische politische Gemeinschaft. Das Projekt einer europäischen Verfassung scheiterte, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik „hat nicht funktioniert.“ Vor allem aber gelte in der EU nicht für alle Bürger gleiches Recht. In Tschechien werden Löhne zu einem einheitlichen Prozentsatz versteuert, Deutschland regelt das anders. Unterschiedliche Wahlsysteme bewirken, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht jede Stimme gleich viel zählt.
Ungleichheiten gibt es auch bei Krankenversicherungen, Arbeitslosengeld oder Renten. Wirtschafts- und Währungspolitik würden dagegen seit den 1990er Jahren zunehmend zentral von Brüssel aus gesteuert. Genau darin besteht laut Ulrike Guérot das Problem: „Binnenmarkt und Euro mussten ohne politischen Überbau zwangsläufig zur ökonomischen Diktatur werden.“ Industrie und Banken können ihre Geschäfte dort machen, wo es für sie am günstigsten ist: Durch die gemeinsame Währung fallen Wechselkurse und Transaktionskosten weg. Die Bürger arbeiten aber in jedem Land zu anderen Bedingungen, europäische Sozialstandards oder gar ein gemeinsames Tarifrecht fehlen. Dass es in einem solchen Gefüge früher oder später soziale Spannungen geben musste, liegt für Ulrike Guérot auf der Hand.
Europa wächst also nicht weiter zusammen, im Gegenteil, es wachsen wieder Zäune an den Grenzen. Nach dem Referendum in Großbritannien fordern auch Rechtspopulisten in Deutschland und Frankreich lautstark Abstimmungen über einen Austritt. Ist es in solchen Zeiten nicht etwas gewagt, eine Europäische Republik ausrufen zu wollen? „Durch die fortlaufende Kritik an der EU wird doch gerade deutlich, dass wir etwas anderes brauchen“, ruft Guérot und schiebt ihre Brille hoch, die von der Nase zu rutschen droht. „Um mit Hegel zu sprechen: Vielleicht muss etwas Altes sterben, damit etwas Neues werden kann!“
Aber wie genau soll das Neue aussehen? Guérot wünscht sich einen demokratischen und sozialen Kontinent. „Ein Europa der Bürger, nicht der Banken. Ein Europa der Arbeitnehmer, nicht der Industrie. Ein Europa, das gemeinsam in der Welt agiert. Ein humanes Europa und nicht eins, das sich abschottet.“ Als erstes fallen die Nationalstaaten Ulrike Guérots Gedankenexperiment zum Opfer. Sie würde gerne unter „dem schützenden Dach einer Republik“ leben, das sich über ein Netzwerk aus europäischen Regionen und Städten spannt. Nationalstaaten sind für Guérot überflüssig. Sie findet, man sollte mehr darüber nachdenken, warum wir derzeit eigentlich davon ausgehen, dass nur diese uns Bürgern Rechte verleihen und garantieren können.
Guérot fordert von den Europäerinnen und Europäern, sich ihre Souveränität zurückzuholen und ans Werk zu gehen: die Neugründung der Republik. Deren Präsident, die Abgeordneten und Senatoren würden direkt vom europäischen Volk gewählt. Ulrike Guérot ist überzeugt davon, dass es schon heute eine Generation gibt, die „postnational“ denkt: „eine kreative, smarte und ganz und gar nicht apolitische Jugend“, die sich eher in Graswurzelbewegungen organisiert, als einer Partei beizutreten und Demokratie lieber auf Biennalen, Theaterbühnen oder Literaturfestivals verhandelt, als eine Karriere im EU-Parlament anzustreben.
„Ich kritisiere die EU, weil ich sie so sehr liebe”
Hat Guérot keine Angst, mit ihrer radikalen EU-Kritik den Populisten von rechts in die Hände zu spielen? „Ich fordere doch eine ganz andere Politik. Ich mache ein konstruktives Angebot, was man ändern müsste und wie. Meine Analyse mag zum Teil deckungsgleich mit der von Bernd Lucke sein, wenn er sagt, der Euro funktioniert so nicht. Da stimme ich ihm zu. Aber ich ziehe daraus eine andere Schlussfolgerung.“ Sie wolle den Populisten die EU-Kritik wegnehmen. „Samt der Republik und den Regionen. Marine Le Pen beschwört in ihren Reden jeden Tag die Republik und die Regionen. Das sind gute Konzepte, die ihr aber nicht gehören. Die gehören in die politische Mitte!“
Ein europäischer Mindestlohn, transnationale Parteien, Berufsabschlüsse, die in ganz Europa gleichermaßen anerkannt werden? Hat Guérot Hoffnung darauf, ihre Republik Europa Wirklichkeit werden zu sehen? Man könnte sagen: Sie wartet auf die Revolution. Zwar sieht sie derzeit keine Bewegung, mit Hilfe derer sich die europäischen Bürger aus dem „Spinnennetz des Neoliberalismus“ befreien könnten, aber sie glaubt fest daran, dass es letztlich Zufälle sind, die radikalen Wandel anstoßen. „Eine dem Ende geweihte Ehe scheitert nicht, weil man sich hinsetzt und sagt, so, jetzt ist es vorbei. Sie scheitert, weil die Frau durch einen Zufall etwas in der Westentasche ihres Mannes entdeckt. So passiert auch Geschichte und diese Zufälle können wir nicht lenken.“ Mit ihrer politischen Utopie einer Republik Europa hat sie eine Idee „an den Weltgeist“ übergeben, wie sie sagt. Es ist ein Denkanstoß, ein Versuch, Europa radikal neu zu denken. Vom Echo fühlt sie sich derzeit ein bisschen erschlagen, ein Interview folgt auf das andere. „So wird die Idee mit der Republik weitergetragen, und immer mehr Leute sagen mir: Das ist ja eigentlich ganz plausibel.“
Damit aus der Idee eines Tages Wirklichkeit wird, braucht Europa einen historischen Moment. „Die große Frage ist: Kriegen wir das friedlich hin?“ Ulrike Guérot meint, wir haben gute Chancen. Warum? „Wir haben es 1989 schon mal geschafft.“