Von Reisefreiheit und gefülltem Schafsdarm
„Die Türkei braucht die Europäische Union gar nicht mehr.” Das behauptete Mitte Mai ein regierungsnaher türkischer Wirtschaftswissenschaftler in der Tageszeitung „Sabah“ (Der Morgen), einer ebenso regierungsnahen Publikation. Der Ökonom erklärte ausgiebig, warum das Aufschwungland Türkei längst nicht mehr auf den Beitritt zur Europäischen Union angewiesen sei. Das steht zumindest wörtlich im krassen Gegensatz zum offiziellen Standpunkt der Regierung, die am Europatag erneut bekräftigt hatte, die zeitweise etwas eingeschlafenen Verhandlungen zum EU-Beitritt weiter voranzutreiben. Auch der neue Minister für Europäische Angelegenheiten Çavuşoğlu glaubt, dass die Türkei so nah wie nie zuvor an der Vollmitgliedschaft in der EU ist.
Ist es daher nicht überraschend, dass nur drei Tage nach den klangvollen Reden von Präsident Gül und Premierminister Erdoğan ausgerechnet in der Sabah ein solcher Contra-Artikel veröffentlicht wird? Kaum, wie ein kurzer Blick auf Erdoğans letzten Berlin-Besuch verrät. Dort hatte er im Februar diesen Jahres in der ihm üblichen Überzeugung verkündet, dass die EU die Türkei inzwischen mehr brauche als umgekehrt. Fast ein Jahrzehnt nach der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen ist die Türkei vom scheinbaren Bittsteller zu einem selbstbewussten Verhandlungspartner geworden, der nicht davor zurückscheut, die zukünftigen Bruderstaaten in ihre Schranken zu weisen oder gar, wie zuletzt in einem Entschädigungsurteil zu Zypern, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes schlicht für ungültig zu erklären.
Aber wie sehen das die Bürgerinnen und Bürger der Türkei, die das Gerangel um Paragraphen, Verordnungen und Reformen seit gut 15 Jahren von der Zuschauertribüne mitverfolgen? Wie sehr das Dauer-Thema die Türkei bewegt, zeigt eine repräsentative Umfrage des Transatlantic Trend 2013. Demnach sank der Anteil der Anhänger eines türkischen EU-Beitritts seit dem Beginn der Verhandlungen 2004 von 73 Prozent auf heute nur noch 44 Prozent. Die Gründe dafür (und dagegen) sind ebenso umfassend wie verschieden. Wir haben nachgefragt, was die EU den Menschen hier bedeutet und festgestellt, dass das Thema kaum jemanden in der Türkei kalt lässt. Vom Parkplatzwächter bis zur Jurastudentin hat jeder eine ganz eigene Meinung zum EU-Beitritt:
Gözde (27), Studentin an der Bosporus-Universität Istanbul
Ich bin nach wie vor für den EU-Beitritt und ich glaube auch, dass die Regierung weiter darauf hin arbeitet. Als Exportland braucht die Türkei die EU und ihre Mitgliedstaaten und das Land kann von einem Beitritt wirtschaftlich sehr profitieren. Ich mache mir allerdings Sorgen um die Subventionszahlungen der EU, die die Türkei dann mit zu finanzieren hätte.
Reşide (59), Hausfrau aus Bursa
Ich glaube nicht, dass die Türkei unter Führung von Erdoğan jemals in die EU kommt. Natürlich wünsche ich es mir sehr, für mich selbst und auch für das Land. Aber zum einen ist der Wirtschaftsboom in der Türkei nicht wirklich nachhaltig, zum anderen liegt die Türkei in anderen Bereichen weit hinter Europa zurück.
Cüneyt (34), Parkplatzwächter aus Istanbul
Ich hab Verwandte in Deutschland, aber ich war nie dort. Ich bin mir nicht sicher, ob die Türkei wirklich in die EU soll. Wenn hier plötzlich alles nach deren Regeln läuft, wird das vielen nicht gefallen. Unser traditioneller Straßenverkauf von Muscheln, Kokoreç (gefüllter Schafsdarm), Fisch vom Grill und so weiter wird dann doch verboten. Das sind Tausende von Jobs! Wir haben eigentlich eine sehr starke Wirtschaft grad, vielleicht ist die Türkei ohne die EU sogar besser dran.
Merve (25), Jura-Studentin und Völkerrechts-Aktivistin aus Ankara
Allein schon wegen der Menschenrechts-Situation und der Aussicht auf hoffentlich bessere Lebensbedingungen bin ich für den EU-Beitritt. Ich habe allerdings Bedenken, dass unsere Erwartungen nicht erfüllt werden. Immerhin ist in der EU auch nicht alles perfekt. Das haben wir zuletzt an den rassistisch motivierten Mordanschlägen in Deutschland gesehen.
Dora (28), Mitarbeiter der Uni-Verwaltung in Eskişehir
Ich wäre gern in der EU, allein schon wegen der Möglichkeit, in anderen Ländern zu leben und zu arbeiten. Ich war 1998 auch mal in England, lange bevor die richtigen Verhandlungen mit der Türkei losgingen. Inzwischen gibt es hier immer weniger Unterstützung im Land für den EU-Beitritt. Es dauert einfach zu lange! Außerdem sehen hier viele Leute die EU als eine Art Club der Christen, in dem wir als muslimisch geprägtes Land nie als gleichwertig anerkannt würden. Am Ende müssen unsere Politiker abwägen, ob die Türkei sich weiter um die EU bemüht, oder lieber die unabhängige (Macht-)Position im Mittleren Osten ausbaut.
Die bisher längsten und schwierigsten Beitrittsverhandlungen in der Geschichte der EU, die wirtschaftlichen Entwicklungen in der Türkei und in der Euro-Zone und die polarisierenden Persönlichkeiten an der Spitze des Landes haben mit Sicherheit nicht dazu beigetragen, der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft auf Dauer schmackhaft zu machen. Ob und unter welchen Bedingungen der steinige Weg zur Vollmitgliedschaft nun weiter beschritten wird, entscheiden im Idealfall beide Parteien gemeinsam. Ein endgültiger Abbruch der Verhandlungen liegt, so scheint es, längst nicht mehr allein in den Händen der EU.
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