Ulrich Köhler: Fahrzeuge ohne Ziel Flucht aus dem Vorherbestimmten
Wir widmen uns den ersten vier Langfilmen von Ulrich Köhler, einem Vertreter der zweiten Welle der Berliner Schule, und gehen dabei von dem Fahrzeug als Grundelement seiner Filme aus.
Von Miguel Muñoz Garnica
Bungalow (2002), sein Spielfilmdebüt, beginnt mit einer Großaufnahme des Gesichts von Paul, einem sehr jungen Soldaten. Die ruckelnde Aufnahme und die Geräusche deuten darauf hin, dass er in einem Fahrzeug unterwegs ist, und um diese Vermutung zu bestätigen, folgt ein Kameraschwenk, der uns eine Reihe von Soldaten in einem Lastwagen sowie die Straße zeigt, die im Hintergrund verläuft. Danach sehen wir, wie der junge Mann diese Reihe verlässt, zu einem Fremden ins Auto steigt und dann einen Zug nimmt. Wir erfahren später, dass er desertiert, um zu seinen Eltern zurückzukehren, erfahren aber nicht den Grund für seine Anwandlung. In diesen wenigen Minuten verdichtet sich in Paul bereits Köhlers Handschrift, die ihn eindeutig mit der Berliner Schule verbindet. Er blickt auf seine Figuren wie ein Beobachter, ohne zu psychologisieren: In seinen Filmen geschehen die Dinge, weil sie geschehen – und was wäre dafür ein besseres Beispiel als die plötzliche und unerklärliche apokalyptische Wendung in In My Room (2018). Die getriebene Suche nach einer neuen Zukunft. Nach irgendeiner Zukunft. Und vor allem der Rastlosigkeit seiner Protagonist*innen.
Der Kamera-Wagen
In diesem Sinne bildet die oben erwähnte Einstellung so etwas wie die Grundlage von Köhlers Filmen. Seine Filme sind voller Aufnahmen dieser Art, bei denen die Kamera im Inneren eines Fahrzeugs platziert ist und die möglichen Wege zeigt, die sich hinter der Windschutzscheibe auftun. Das Fahrzeug kommt in seiner Funktion als Apparatur, aus der heraus man die Welt wahrnimmt, der Filmkamera gleich. In Montag kommen die Fenster (2006) führt uns eine Aufnahme aus der Perspektive der Motorhaube von den nächtlichen Straßen zu einer Hütte in den Bergen, ohne dass wir einen Kontinuitätsbruch bemerken. Durch das Moment der Fortbewegung wird die lebensverändernde Kehrtwende der Protagonistin, die sie zu einer stetigen und geheimnisvollen Flucht nach vorne treibt, in Bilder übersetzt. Genauso gestalten sich die Aufnahmen im Inneren eines Geländewagens, durch die die Geschichte in Schlafkrankheit (2011) zu einer Art Conrad'schen Reise mutiert; oder die subjektive Aufnahme eines Sportwagens, der durch die verlassenen Straßen rast, wodurch vermittelt wird, dass der Protagonist seine Rolle als „letzter Mensch“ in In My Room schlussendlich angenommen hat.
Gegen das Schicksal
So lassen sich Köhlers Filme als Fahrzeuge ohne vorgegebenes Ziel definieren, als Flucht aus dem Vorherbestimmten, vor dem Erwachsensein und seinen Verpflichtungen Bezeichnend ist, dass nur der Protagonist von In My Room stehen bleibt und Wurzeln schlägt und zwar nachdem die Menschheit ausgestorben ist. Nach eigenen Worten geht es dem Regisseur in seinen Filmen um „Spekulation“, um das „Ausloten von Möglichkeiten“. Sehen wir uns ein anderes wiederkehrendes Bild in seinem Werk an, das immer in den Anfangsszenen auftaucht: der Protagonist in Bungalow bricht die Eingangstür seines Wohnhauses mit einem Schlag auf, der Protagonist in In My Room zerstört seine Eingangstür direkt; in Montag kommen die Fenster werden alte Fenster eingeschlagen. Der erste Schritt besteht darin, die Barrieren des Eigenheims niederzureißen, damit das Vertraute aus ihnen entweichen kann. Von da an sind wir bereit für jenen zeitlosen Zustand der Rastlosigkeit, den Köhlers Kino aufzeigt, jene Suche nach einer möglichen Zukunft frei von Ballast und ohne Zufluchtsräume.