„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, Dominik Graf
Zeittunnel

Filmstill aus „Fabian oder der Gang vor die Hunde” von Dominik Graf, 2021
Filmstill aus „Fabian oder der Gang vor die Hunde” von Dominik Graf, 2021 | © Kino Lorber

Der erfahrene Filmemacher adaptiert den Roman von Erich Kästner, der in den letzten Jahren der Weimarer Republik spielt, in einem Stil, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart changiert.
 

Von Miguel Muñoz Garnica

In einer einzigen Einstellung, der Eröffnungseinstellung des Films, steigt die Kamera die Treppen der Berliner U-Bahn hinab und überquert die Bahnsteige. All dies ist unverkennbar zeitgenössisch, als wäre die Aufnahme an einem beliebigen Tag entstanden: das Dekor, die Kostüme der Statisten, die Handkamera selbst und ihre digitale Bildqualität ... Wenn die Kamera in dieser Plansequenz jedoch wieder nach draußen zurückkehrt, befinden wir uns plötzlich in Deutschland im Jahr 1931. Die Illusion entsteht dadurch, dass eine Handvoll Statisten in Kleidung aus der damaligen Zeit auftauchen und Nazi-Plakate an den Wänden hängen. Wir sind gerade aus einem Zeittunnel gestiegen.

Jenseits der Kamera

Von da an verlässt der Film den historischen Rahmen nicht mehr, aber dieser anfängliche Kurzschluss reicht aus, um Kratzer an seiner Glaubwürdigkeit zu hinterlassen. Als würde Graf uns auffordern, ständig nach dem nächsten Anachronismus Ausschau zu halten. Darüber hinaus legt er sich selbst die Einschränkung auf, keine Totalen zu verwenden. Die Bildausschnitte suchen die Nähe zu ihren Motiven und blenden Fluchtpunkte aus, so dass die Rekonstruktion der Weimarer Republik von kleinen Bildern getragen wird. Straßenecken und Innenräume mit vielen Kostümen sowie Oldtimer. Nicht viel mehr als das.

All das hat entscheidende Auswirkungen auf die Welt jenseits der Kamera. In den meisten Szenen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man es mit der Realität und dem Rhythmus des heutigen Berlins zu tun bekommt, wenn man den Bildausschnitt nur ein wenig vergrößert. Was zu der absoluten Heterogenität eines antinostalgischen, rasend modernen Bildes beiträgt: die bereits erwähnte Handkamera, verschlungene Winkel, unkonventionelle Beleuchtung, Wechsel von Digitalaufnahmen zu Super 8 in ein und derselben Szene, aggressive Montage – einerseits verbindet Graf zwei Einstellungen durch harte Schnitte, andererseits gelingt es ihm, wie in der Eröffnungsszene, zeitliche Diskontinuitäten ohne einen einzigen Schnitt herzustellen.

Filmstill aus „Fabian oder der Gang vor die Hunde” von Dominik Graf, 2021
Filmstill aus „Fabian oder der Gang vor die Hunde” von Dominik Graf, 2021 | © Kino Lorber

Vorwegnahme

Graf bedient sich auch einer erzählerischen Vorwegnahme, die über die eigentliche Handlung hinausgeht. Die Plakate der NSDAP und die Jahreszahl 31 kündigen die zukünftige Katastrophe an. Als Kästner den Roman schrieb, war er in dieser Hinsicht genauso blind wie sein Protagonist, aber er spürte dennoch den verhängnisvollen Wandel in der Gesellschaft, den er auf Fabians unglückliches Schicksal übertrug. Blickt man aus dem Jahr 2021 auf diese Dinge, stellt sich zudem ein historisches Bewusstsein ein: Graf verankert Fabian nicht im Zwischenraum einer mürrischen Gegenwart – einem Land mit sprunghaft ansteigender Arbeitslosigkeit und Inflation – und einer vage bedrohlichen Zukunft, sondern kehrt die Begriffe um. Was unklar ist, was uns entgleitet, ist die Gegenwart des Protagonisten; die Zukunft unter Adolf Hitler ist jedoch absolut gewiss. Betrachtet man die Welt jenseits der Kamera unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich eine Verschmelzung von historischem Bewusstsein und klarer Zeitgenossenschaft, eine Nicht-Zeit, die letztlich für Fatalität steht. Was in Bezug auf Fabian die entscheidende Frage aufwirft: Lohnt es sich zu überleben, um zu einem Zeugen der Zeit zu werden?

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