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Inklusion im Theater
Ein Anfang, aber noch viel Luft nach oben

Theatergruppe RambaZamba | Inszenierung „Zur schönen Aussicht“
Theatergruppe RambaZamba | Inszenierung „Zur schönen Aussicht“ | Foto (Detail): © RambaZamba

Während Inklusion und Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft nur langsam voranschreiten, ist die Theaterszene schon einen großen Schritt weiter. Kulturjournalist Georg Kasch stellt aktuelle Inszenierungen vor.
 

Von Georg Kasch

Beim Berliner Theatertreffen, bei dem alljährlich die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gezeigt werden, gehörte 2024 Riesenhaft in MittelerdeTM zu den besonders gefeierten Produktionen: Das Publikum bewegte sich zusammen mit Hobbits, Elben und Orks durch Wälder, eine Schenke, über mehrere Plätze und Podien. Eine oft komische, manchmal auch rauschhafte Inszenierung war da gelungen, die die Macht der Freundschaft feierte – und die der Gemeinschaft.

Riesenhaft in MittelerdeTM war eine Koproduktion vom Theater HORA und dem Schauspielhaus Zürich, der Berliner Gruppe Das Helmi und Der Cora Frost. Sie ist aktuell typisch für die Produktionsweisen der großen inklusiven Ensembles, die oft mit freien Künstler*innen, Gruppen oder Stadttheatern zusammenarbeiten. In ähnlichen Konstellationen entstanden viele der spannendsten inklusiven Arbeiten der letzten zwanzig Jahre: Jérôme Bels Disabled Theater (mit Theater HORA), Rimini Protokolls Qualitätskontrolle, Chinchilla Arschloch, waswas, Das Helmi mit vielen HORA- und Thikwa-Koproduktionen, hannsjana mit Thikwa Diane for a day, Merkel, Bauchgefühl und Eins zu Eins von Meine Damen und Herren.

Im Theater sind sie sichtbar

Menschen mit Behinderungen sind weit ins Zentrum des deutschsprachigen Theaters vorgerückt, wo sie mehr Sichtbarkeit bekommen als beispielsweise im Film und oft auch mit weniger Klischees konfrontiert werden. Zudem sind sie hier stärker wahrnehmbar als in vielen anderen Bereichen. Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits 2009 dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu gewährleisten. Davon sind wir noch weit entfernt: In Sachen Barrierefreiheit oder generell Sichtbarkeit sind andere Länder – wie zum Beispiel Großbritannien – erheblich weiter.

Etliche der genannten Arbeiten haben für eine Sichtbarkeit von Künstler*innen mit Behinderung gesorgt, wie sie in der Gesellschaft längst noch nicht selbstverständlich ist: Disabled Theater tourte um die halbe Welt und wurde auf allen wichtigen Festivals gezeigt; Der kaukasische Kreidekreis von Rimini Protokoll und Theater HORA war die erste Produktion der Salzburger Festspiele, in der Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf der Bühne standen.

Für noch mehr Sichtbarkeit sorgen die Stadt- und Staatstheater, weil dort inklusives Arbeiten ein Publikum erreicht, das sich nicht unbedingt bewusst dafür entschieden hat, Künstler*innen mit Behinderung auf der Bühne zu erleben. Deshalb ist es so wichtig, dass die Münchner Kammerspiele seit 2021 als erstes deutschsprachiges Stadt- und Staatstheater ein inklusives Ensemble besitzen, darunter mehrere Schauspieler*innen mit kognitiven als auch mit Körperbehinderungen. Zwischen Produktionen auf der großen Bühne wie Jan-Christoph Gockels Wer immer hofft, stirbt singend mit einer Ästhetik irgendwo zwischen Zirkus und Frank Castorf und einer völlig neuen, von leichter Sprache geprägten Ästhetik in Nele Jahnkes Anti•gone-Inszenierung gibt es gerade kein Haus, an dem die Möglichkeiten und Herausforderungen inklusiven Arbeitens intensiver ausprobiert würden.

Es gibt aber auch andere Modelle. Das Deutsche Theater Berlin kooperiert für ausgewählte Produktionen seit Jahren mit dem Theater RambaZamba, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg mit der Gruppe Meine Damen und Herren, das Tanztheater und das Junge Schauspiel in Bremen mit tanzbar. Das Schauspiel Leipzig wiederum ist zu einem Leuchtturm für Audiodeskription geworden und will sich jetzt dafür engagieren, in ausgewählte Inszenierungen Deutsche Gebärdensprache zu integrieren.
Bild von der Inszenierung „Funny Games“ der inklusiven Theatergruppe Meine Damen und Herren, in Kooperation mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Inszenierung „Funny Games“ der inklusiven Theatergruppe Meine Damen und Herren, in Kooperation mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (Detail): Meine Damen und Herren/Christian Martin

Inklusive Ausbildung und kreative Arbeit

Im Theater läuft es also etwas besser als anderswo. Aber auch hier gibt es noch viel Luft nach oben. Die Kooperationen insbesondere mit dem Stadttheater zeigen, wie viele Barrieren existieren – baulich, aber auch in der Organisation eines auf das Funktionieren ausgelegten Betriebs und in den Köpfen der Mitarbeitenden. Eine große Baustelle ist zudem die Frage der Ausbildung. Noch ist es so, dass Schauspieler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung ihr Handwerk nur innerhalb der inklusiven Gruppen lernen können. Erste Ausnahmen, etwa die Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg oder das Schauspiel Wuppertal, das ein inklusives Studio eingerichtet hat, bestätigen die Regel. Wie viele der bereits genannten Entwicklungen sind sie stark von externer Förderung abhängig – versiegt das Geld, werden sie kaum fortgesetzt werden.

Eine der womöglich spannendsten Entwicklungen im inklusiven Theater ist gerade, Künstler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung verstärkt Leitungskompetenzen zu übertragen. Prägend war hier das Langzeitprojekt Freie Republik HORA. Zwischen 2013 und 2019 lotete es systematisch die Bedingungen und Möglichkeiten aus, unter denen Künstler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung kreativ arbeiten können.

Auch bei vielen anderen Gruppen gibt es verstärkt Bemühungen, Schauspieler*innen in kreative Entscheidungspositionen zu bringen. Etwa beim Theater Thikwa. Ensemble-Mitglied Rachel Rosen schrieb das Stück Das Spiel für das Berliner Theater an der Parkaue, wo Lia Massetti zuletzt mit Parkaue-Ensemblemitgliedern das Stück Tiere treffen Tiere entwickelte. Dennis Seidel, Schauspieler bei der Hamburger Gruppe Meine Damen und Herren, realisierte seit 2015 drei Abende, die er selbst schrieb und inszenierte. Momentan transformiert sich die Gruppe zum Kollektiv – immer öfter übernehmen die Performer*innen Verantwortung auch in allen anderen Bereichen des Theaterbetriebs. 2024 inszenierte Linda Fisahn von I can be your translator in Dortmund ihre Version von Romeo und Julia.

Aufeinander hören, miteinander agieren

Diese neue künstlerische Selbstständigkeit, die Theaterschaffende mit Körperbehinderung teils schon wesentlich früher erkämpft haben, dürfte sich auch in MOBILE niederschlagen, einem Vernetzungsprojekt, das das Goethe-Institut anlässlich der Paralympics in Paris angeregt hat. Es bringt eine deutsche oder Schweizer mit je einer französischen Gruppe zusammen, etwa das Theater Thikwa mit der der Theaterkompanie Insolite Fabriq oder das Theater HORA mit der Compagnie Tout va bien / la Mue du lotus.
Bild von Theater Thikwa

Theater Thikwa | Foto (Detail): ©Thikwa/David Baltzer


„Für uns sind Austauschformate extrem wichtig“, sagt Oliver Roth vom Theater HORA. „Für unsere Spieler*innen ist es immer sehr bereichernd, andere Menschen mit Beeinträchtigung zu sehen, die Theater machen, ihre Präsenz zu erleben, ihre Zärtlichkeiten und Ausdrucksweisen.“

„Spannend ist die Begegnung an sich“, ergänzt Saskia Neuthe vom Theater Thikwa. „Gerade bei sprachlichen Barrieren: Wie interagieren wir künstlerisch?“ Ihre Erfahrung: „Wir müssen aufeinander hören, miteinander agieren.“ Fähigkeiten, die man auch im Alltag braucht – und von denen die Gesellschaft nur profitieren kann.

 

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