Band des Monats
Nikra

„Eine Stimme der Rebellion, die sich nicht scheut, die dunklen Ecken des eigenen Geistes und der Gesellschaft zu erkunden“. So wurde Nikra vom Frontstage Magazine 2024 kurz beschrieben.
Ein Punkrock-Sound aus Mannheim. Nikra ist das Symbol einer engagierten Generation, die ihre Wut gegen ein kapitalistisches und patriarchalisches System herausschreit, das einengt, unterdrückt und zerstört und wenig optimistische Aussichten für die Zukunft lässt. Aber welche Zukunft denn? Dies sind genau die Themen, mit denen sich Nikras Songs beschäftigen. Deep Dive in die ergreifend dissonante Ästhetik einer jungen Band…
Von Camille Volle
Punk mit Feingefühl
„Nikra ist 2021 entstanden, aber wurde dann durch Corona und andere Sachen etwas gebremst. So ein Entwicklungsprozess braucht natürlich auch immer Zeit. Ich habe mich dann aber trotzdem dazu entschieden, die Musik damals schon zu veröffentlichen. Und als Corona so langsam auslief, haben wir angefangen, auch Konzerte zu spielen.“, erzählte Nikra in einem Interview von Volume Magazine 2024. In den Interviews wird das Pronomen 'wir' verwendet, doch der gemeinsame Nenner hinter 'Nikra' ist eigentlich die Sängerin Annabelle: „Nikra ist quasi die Überschrift für mein künstlerisches Schaffen – egal in welche Ecken das dann auch immer abdriftet. Aber obwohl es mein Künstlername ist, sage ich 'wir', weil ich das alles natürlich nicht alleine mache. Da sind noch ganz viele andere Menschen beteiligt; neben der Band etwa mein Management, die Leute die Fotos und Videos machen und so weiter. Am Ende sind wir eine gemeinsame Gruppe. Und Kreativität findet ja auch selten in einem Vakuum statt. Kunst ist etwas, was man miteinander teilt, und deswegen sage ich da auch *'wir' zu.“ (Volume Magazine)Eher ungewöhnlich wird es, wenn man ihre Diskografie etwas genauer anschaut, denn man sieht, dass Nikra vor allem Singles herausbringt, und zwar eine nach der anderen; von Zeit zu Zeit auch mal eine EP (bisher waren es zwei), die ihre bisherigen Songs zusammenfasst. Liegt es vielleicht an dem sehr progressiven Anfang der Band, die zu Coronazeiten gegründet wurde? An ihrer Jugend? Nikra scheint jedenfalls nicht sehr sichtbar in den Mainstream-Medien zu sein, dafür aber umso mehr in der alternativen Szene. Wenn Nikra auch regelmäßig Nachrichten auf Instagram postet, so ist sie aber vor allem direkt bei ihrem Live-Publikum präsent. Dies macht sich vor allem durch ihre insgesamt 40 Konzerte zwischen 2023 und 2024 bemerkbar. Es geht also hier nicht um eine gewisse Dauer des Bestehens der Band oder um Anerkennung. Nikra bevorzugt den Kontakt mit einem speziellen, für ihre Songtexte empfänglicheren Publikum: „Es ist auch sehr schön, dass es so Veranstaltungen sind, wo das Zielpublikum das richtige ist, wie neulich im P8 in Karlsruhe beim Fest zum internationalen queer-feministischen Kampftag oder jetzt am 1. Mai-Fest vom Kulturzentrum Faust in Hannover. Das ist natürlich was anderes als um 16 Uhr auf irgendeinem Stadtfest zu spielen…“ (Volume Magazine)
Aber welchen Musikstil hat Nikra eigentlich? Als Annabelle sagte, Nikra sei die Überschrift für ihr künstlerisches Schaffen „– in welche Ecken das dann auch immer abdrifte“, so spielte sie bestimmt auf ihre breite Palette an. Ihr facettenreiches Repertoire (z.B. die Single hund) reicht von einer eher ruhigen Klavierbegleitung bis zu lauten und schnellen Punk-Klängen. Annabelles bemerkenswert breiter Stimmumfang umfasst sowohl Indie, als auch Rock oder Punk. Sich auf dem schmalen Grat zwischen Schrillem und Zartem bewegend - man braucht nur die brutal aufrichtige Poesie in ihren Songtexten zu hören - ist Nikra trotz allem fest im Punkstil verwurzelt. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Sängerin nicht will, dass die Musik von Nikra durch eine allzu präzise Schublade eingeengt wird. Sie beschreibt ihre Musik folgendermaßen: „Irgendwas mit Punk. Gitarrengetriebene Rockmusik, mit dem, was ich zu sagen habe. Ich finde es tatsächlich aber auch immer wieder schwierig. […] Scheiss‘ da doch drauf. Entweder es gefällt dir oder es gefällt dir nicht und dann hörst du es oder halt nicht. Sich auf das Wesentliche konzentrieren.“
Der Klang der Introspektion
Mehrere Stücke von Nikra werden zu Recht mit einem lauten Schrei verglichen. Er scheint direkt aus dem Bauch zu kommen, wie in Mein Herz ist tot. Dieser Song drückt einen starken inneren Schmerz aus - oder exorzisiert ihn sogar. Die sanften Klavier- und Celloklänge kontrastieren mit der mal ätherischen, mal rauen Stimme. Es vermittelt das Gefühl, gleichzeitig nackt und ungeschützt zu sein.Mein Herz ist tot
mein herz ist tot
ich hab es umgebracht
hab ihm den garaus gemacht
und es klein
es klein gehackt
[…]
ich wring mein herz aus
zähl die undichten stellen
blas es auf
beseitige die dellen
ich reanimier und ich reparier
reiss mir das ding aus der brust
und spann es ins klavier
Nikras Musik wirkt wie eine Höhlenerkundung in den Tiefen des Ichs - ohne Sicherheitsvorkehrungen. Im grellen Licht der Taschenlampen entdeckt man all die Unebenheiten. Es gibt keine Garantie dafür, dass man völlig unversehrt wieder herauskommt. Die rohe Energie der aufrichtigen Texte und der kraftvollen Instrumente rütteln einen wahrlich auf. Eine innere Erkundung, die nichts beschönigt, ganz im Gegenteil. In ihren Songs geht es oft um eine Schadensfeststellung, sie beklagt und hinterfragt diese, wobei sie insbesondere auf das Verhältnis zum eigenen Körper eingeht.
Wer hat diesen Körper designt?
wer oh wer hat die schönheit erfunden
wer oh wer hat sie mir aufgebunden
wer oh wer schenkt mir immer nochmal nach
zwei fingerbreit eitelkeit
in mein glas
scherben bringen glück
nur die vom spiegel nicht
ich schlag mir selber ins gesicht
und traue meinen augen nicht
splitterfasernackt hab ich mich selbst ausgelacht
mein selbstbild steht in Flammen
wer hat es angefacht
nach allem was mir hässlich erscheint
frag ich mich wer hat diesen körper designt?
Also: sind es Selbsthass und brennende Schuldgefühle? Oder ist es eher Infragestellung von Normen? Tatsächlich kann man sich fragen, ob der Körper, mit dem das „Ich“ hadert, nicht als Bild für etwas Anderes steht. Man denke zum Beispiel an die Schönheits- und Gendernormen, die in unserer Gesellschaft vorherrschen. Es könnte auch das Bild eines Geistes sein, der sich fragt, warum er in diesen Körper hineinversetzt wurde, ein Bild des Unwohlseins und der Wut, die das eigene Spiegelbild verursacht, usw.: all diese Anzeichen sind der Geschlechtsdysphorie nicht unähnlich. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ist, dass es hier um ein Individuum geht, das die ihm durch die Gesellschaft kollektiv zugefügte Gewalt gegen sich selbst richtet.
Die Stimme der Rebellion
„Ich glaube, man kann nicht mehr keine Haltung einnehmen. Also allgemein gesprochen, aber als Künstler*in nochmal besonders. Wenn man Kunst als Ausdruck der Persönlichkeit sieht, dann gehört da eine Haltung rein. Und wenn man sich dieser Haltung entzieht, löst dieses Schweigen trotzdem etwas aus – man nimmt also in zweiter Instanz trotzdem wieder eine gewisse Haltung ein. Und „Haltung“ bedeutet ja auch nicht, dass man nur Paroli-Songs schreiben muss. Aber man sollte schon hinterfragen, für was man steht und für was man stehen will. Und als queere FLINTA*-Person kannst du auch gar nicht nicht politisch sein, weil alles um einen herum dich schon politisiert. Man ist einfach im Zentrum des politischen Gesprächsthemas. Bands und Festivals haben bei der Thematik mittlerweile ein gewisses Feingefühl entwickelt.“ (Volume Magazine)*FLINTA: Akronym für „Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nichtbinäre, Transgeschlechtliche und Agender“ Personen.
Identität und politisches Engagement sind bei Nikra untrennbar miteinander verbunden - was sie repräsentativ für einen Teils der Jugend macht, die sich ebenfalls stark links engagiert. Dieses Phänomen wird durch die aktuelle, mehr als turbulente politische Lage noch verstärkt.
Die Jugend ist tot
„Die Musik spricht aus der Perspektive einer queeren FLINTA* Person, die in einem Spannungsfeld zwischen Konsumrausch und der scheinbaren Wachheit der linken Szene, zwischen dem Glauben an grenzenlose Möglichkeiten und einem resignierten 'no future' Gefühl, zwischen dem Drang zur Selbstzerstörung und dem Streben nach Selbstoptimierung gefangen ist“, schrieb das Frontstage Magazine im Jahr 2024 über Nikra. „In einer Welt, die sich langsam auf den Abgrund zubewegt, die durch Hass und Unterdrückung gespalten ist, suchen viele Trost in Geld, Drogen und Selfies. Der kleiner werdende Mittelstand ist resigniert und unpolitisch, die Punks sind alt geworden und haben ihre Wut verloren. Während viele der neuen Generation nur an die eigenen Ziele, wie Karriere und Kleinfamilie denken, gibt es eine, die laut ist, für das, wofür es sich zu kämpfen lohnt“, ist auf Nikras Bandcamp zu lesen. Und was ist einer ihrer Kämpfe? Ein Leben führen zu können, in dem man so respektiert wird, wie man ist, und aus der Vielfalt eine Stärke zu machen. Und im Gegenteil lautstark gegen diejenigen aufbegehren, die nicht hören wollen und die allgemeine Toleranz bedrohen.
Nikra will ebenfalls das Sprachrohr einer jungen Generation sein, die zwischen Wut und Angst (ja sogar Klimaangst) schwankt, weil sie sich nur mit Schwierigkeiten eine Zukunft vorstellen kann. Klimawandel, politische Instabilität, herrschender Kapitalismus des Arbeitsmarktes, der das Künstlerdasein mehr oder weniger ausschließt, kurz gesagt: es ist kein Grund zur Freude. Die Herausforderungen sind groß und die Aussichten unklarer denn je. Diese Mischung aus Gefühlen, die die Jugend in Bezug auf ihre Zukunft hat, hat Nikra in ihrer Musik umgesetzt. Genauer gesagt handelt es sich um ihren neuesten Song Nichts tut gut, in dem sie mit der aufstrebenden jungen Sängerin und engen Freundin Juli Gilde zusammenarbeitet.
Nichts tut gut
Euphorie und Panik
Heller Tag und Wahnsinn
Dunkelblau und manisch
Alles was sich tut
Tut mir nicht gut
Klar denn
Ich leb die Katharsis
Hab nur drauf gewartet
Dass sich etwas tut
Nikra auf Tour 2025:
13.03.25 Rostock - Peter Weiss Haus
14.03.25 Kiel - Die Pumpe (Roter Salon)
15.03.25 Oldenburg - umBAUbar
17.03.25 Münster - Skater Palace Café
19.03.25 Essen - Weststadthalle
20.03.25 Aachen - Musikbunker Aachen
21.03.25 Frankfurt am Main - Elfer
22.03.25 Heilbronn - Maschinenfabrik
23.03.25 Saarbrücken - Studio 30
26.03.25 Konstanz - Kulturladen
29.03.25 Augsburg - Kantine
30.03.25 Weiden i.d.O. - Die Sünde
02.04.25 Chemnitz - Atomino Club
03.04.25 Erfurt - Kulturzentrum Engelsburg
04.04.25 Braunschweig - Eule
05.04.25 Potsdam - Waschhaus
17.05.25 Visbek - Visbek Rockt Festival
11.07.25 − 12.07.25 Lingen (Ems) - Lautfeuer Festival
30.08.25 Garlstorf - Bleckwiesen Festival
Diskografie
2025 nichts tut gut (Nikra & Juli Gilde), Single
2024 Die Jugend ist tot, Single
2024 FAKE, Single
2024 bis ich in meinem Kopf ersaufe, EP
scherben
vom fliegen und fallen
wer hat diesen körper designt
zeitgeist
hund
das was man ein arschloch nennt
2024 wer hat diesen körper designt?, Single
2023 zeitgeist, Single
2023 scherben, Single
2023 Mein Herz ist tot, Single
2022 Gruselkabinett, EP
Gruselkabinett
Kommst du mit?
Cluny
Leicht
Tanz für mich
2022 Leicht, Single
2022 Cluny, Single
2022 Kommst du mit?, Single
2022 Tanz für mich, Single
Band des Monats auf Spotify
Jeden Monat stellen wir euch eine Band oder eine*n Sänger*in aus einem deutschsprachigen Land vor – den Musikstilen sind keine Grenzen gesetzt. Mit dieser Playlist könnt ihr in die Musik der vorgestellten Künstler*innen hineinschnuppern.