Bedingungsloses Grundeinkommen
Utopische Idee oder notwendiger Paradigmenwechsel?

Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) erscheint vielen verlockend. Doch darüber, ob und vor allem wie das Konzept umgesetzt werden könnte, streiten Laien und Expert*innen seit Jahren. Nun sucht eine Berliner Initiative nach neuen Antworten – und möchte so die Debatte in Deutschland weitertreiben.
Von Lea Hampel
Als sie die E-Mail das erste Mal las, hielt Lisa Buchenauer sie für Spam. Sie saß in Leipzig in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause, scrollte rauf und wieder runter und konnte es nicht glauben: Ausgerechnet sie sollte für drei Jahre ein Grundeinkommen bekommen. Die Doktorandin war so überrascht, dass sie einer Forscherin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mailte, die an der Studie „Pilotprojekt Grundeinkommen“ mitarbeitet, in deren Rahmen Buchenauer Geld erhalten sollte. Buchenauer wollte sich die Nachricht bestätigen lassen. Von der Studie, die der Berliner Verein „Mein Grundeinkommen“ initiierte, hat sie ganz zufällig erfahren. Seit Juli 2021 gehen nun jeden Monat 1.000 Euro auf Buchenauers Konto ein. Das erste Pilotprojekt zum Grundeinkommen in Deutschland besteht aus drei aufeinanderfolgenden Studien. Die erste, derzeit laufende, ist mit 1.500 Teilnehmenden gestartet: 120 von ihnen erhalten wie Lisa Buchenauer drei Jahre lang monatlich Geld. Die Effekte werden mit einer Vergleichsgruppe überprüft.
Eine Idee, älter als der deutsche Sozialstaat

Dabei ist die Idee älter als viele der Probleme, die sie heute lösen soll. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman gilt als einer ihrer Befürworter, manche führen sie gar auf den englischen Staatsmann und humanistischen Autor der Renaissance Thomas Morus zurück.
Macht ein bedingungsloses Grundeinkommen glücklich oder faul?
Bei der Umsetzung eines Grundeinkommens werden verschiedene Modelle diskutiert – von einer pauschalen Zahlung für alle über die Abschaffung aller anderen staatlichen Transferleistungen wie Kindergeld bis zur negativen Einkommenssteuer, bei der nur Geld erhält, wer einen bestimmten monatlichen Betrag verdient. Als klassische Argumente dafür gelten die durch neue Technik wegfallenden Jobs, die hohen Verwaltungskosten der Sozialbehörden und das sinkende Vertrauen in den Staat. Die Gegenargumente wiegen ebenso schwer: Ein Grundeinkommen für alle würde den Bundeshaushalt sprengen und berge die Gefahr der „sozialen Hängematte“, Menschen könnten ganz aufhören zu arbeiten. Hinzu kommen viele offene Fragen: Welche zusätzliche Förderung gibt es für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, für Menschen mit körperlichen Einschränkungen etwa oder für Alleinerziehende? Wie muss das Staatsbürgerschaftskonzept geändert werden, wenn es bedingungslose Zahlungen gibt? Sollen Kinder die gleichen Beträge erhalten wie Erwachsene, und wenn ja, bis wann dürfen die Eltern entscheiden, was mit dem Geld passiert? Und was geschieht, wenn dann keiner mehr Busse lenken oder Toiletten putzen möchte?
Es wirkt, als eliminiere Grundeinkommen die Existenzangst und macht Arbeit besser.
Michael Bohmeyer

Konsequenzen für Scheidungsraten und psychische Gesundheit
Wissenschaftler Osterkamp sieht viele der bisherigen Experimente skeptisch. 122 Teilnehmende beim Berliner Versuch findet er „außerordentlich wenig“, auch wenn klar sei, dass das den Kosten geschuldet ist. An anderen Experimenten kritisiert er den Fokus auf falsche Gruppen, etwa die Beschränkung auf Arbeitslose in Finnland. „Nur zwei der bisherigen Experimente finde ich fachlich wirklich gut.“ Die großen Experimente in den USA vor vier Jahrzehnten seien sehr systematisch erfolgt, mit wissenschaftlicher Begleitung durch mehrere Universitäten und einem großen Sample. Auch das derzeitige Experiment in Kenia sagt ihm zu. Dieses habe den Vorteil, langfristig angelegt zu sein und sehr viele Teilnehmende einzubeziehen. Viele Studien hatten auch tatsächlich interessante Ergebnisse: Beim amerikanischen Experiment stieg die Scheidungsrate, in Finnland ging es den Menschen psychisch besser. Erste Ergebnisse aus Berlin werden erst für das Jahr 2023 erwartet. Aber Bohmeyer sagt: „In keinem BGE-Piloten weltweit gibt es Anzeichen dafür, dass BGE zu weniger Arbeitszeit führt. Das erwarten wir auch bei unserem Pilotprojekt nicht.“ In den vergangenen Jahren hat er bei Gewinner*innen der Verlosungen „viel Veränderung beobachtet, aber keine Trägheit. Im Gegenteil: Menschen werden produktiver. Einige wechseln den Job, weil sie mit dem BGE im Rücken besser nach einem Job suchen können, der wirklich zu ihnen passt. Es wirkt, als eliminiere Grundeinkommen die Existenzangst und macht Arbeit besser“, sagt Bohmeyer. Dass trotz zahlreicher Experimente und solcher Ergebnisse noch kein Land ein Grundeinkommen eingeführt hat, führt Osterkamp auf einen simplen Grund zurück: „Kein Experiment kann die Frage, welche Verhaltensänderungen ein Grundeinkommen auslöst, endgültig beantworten.“ Denn zum einen dürfte der Paradigmenwechsel im Fall einer Grundeinkommenseinführung so groß sein, dass er nicht durch Experimente simuliert werden kann, die immer zeitlich und auf gewisse Gruppen beschränkt sind. Wie sich Löhne, Arbeitsmotivation und gesellschaftliches Klima ändern, wenn auch der Nachbar, die Lehrerin und die Putzfrau ein Grundeinkommen bekämen, lässt sich nur schwer wissenschaftlich vorhersagen. Das zeigt sich auch an Lisa Buchenauers Sicht auf das Experiment: „Ich habe im Hinterkopf, dass es irgendwann aufhört, deshalb habe ich mit dem Geld nicht meinen Lebensstandard erhöht“, sagt sie. Zum anderen werden Befürworter*innen und Gegner*innen auch bei den aussagekräftigeren Studien aus den Ergebnissen das herauslesen, was zu ihrer Linie passt. Ein Beispiel dafür ist die gestiegene Scheidungsrate bei den nordamerikanischen Experimenten. Für Gegner*innen war sie ein Argument, dass ein Grundeinkommen „Sittenverfall“ bedinge. Die Befürworter*innen sahen darin eine positive Entwicklung: Weil Frauen nicht mehr ökonomisch von ihren Männern abhängig waren, konnten sie sich emanzipieren und ihr eigenes Leben führen.Ist es also müßig, überhaupt Experimente durchzuführen und über ein Grundeinkommen zu debattieren? So sieht Osterkamp das nicht. Über die Jahre, in denen er sich mit dem Thema befasst, habe sich viel getan, findet er. Der größte Schritt war zuletzt das geplante „Bürgergeld“ (übrigens ein Begriff aus der Grundeinkommensdebatte) der aktuellen deutschen Bundesregierung, das die Grundsicherungsleistung für Arbeitslose („Hartz IV“) ablösen und einfacher zu erhalten sein soll. „Das ist ein Schritt in Richtung Grundeinkommen, ohne es so zu nennen“, findet Osterkamp. Ob ein Grundeinkommen langfristig tatsächlich gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme lösen kann, vermag auch Lisa Buchenauer nicht zu sagen. Sie sieht sich nicht explizit als Befürworterin, auch nicht nach einem Jahr Bezug. „Aus meiner Sicht braucht es aber schon eine grundsätzliche Veränderung im Sozialsystem.“ Mindestens genauso notwendig sei aus ihrer Sicht mehr Forschung zum Thema. Dazu trägt sie nun selbst bei.