Im Projekt „MOBILE“ haben die Goethe-Institute in Frankreich acht inklusive Theater- und Tanzkompanien aus drei Ländern miteinander vernetzt. Nun ist das Projekt in Berlin zu Ende gegangen.
Auf der Bühne des Theater Thikwa mitten in Berlin-Kreuzberg bewegen sich 25 Personen zu den Klängen der elektronischen Musik. Immer wieder unterbrechen sie ihr Zirkulieren im Raum, suchen Blickkontakt und finden sich in Paaren zusammen. Hat sich ein Tandem gebildet, nimmt eine der beiden Personen eine Pose ein, die andere imitiert Gestik und Mimik wie ein Spiegelbild. Nach kurzem Verharren lösen sich die Partner*innen voneinander, schreiten weiter durch den Raum und formieren sich zu neuen Paaren.
Die Teilnehmer*innen des von den Goethe-Instituten in Frankreich initiierten Projekts MOBILE üben an diesem Freitagmorgen ihren Ausdruck. Ohne Worte, dafür mit Blicken und Körpersprache verständigen sich die Künstler*innen auf der Bühne. Sie sind angereist aus Bremen, Hamburg, Lyon, Marseille, Nancy, Paris und Zürich, um den Abschluss des Projekts zu feiern, das nach einer intensiven Phase des Austauschs, der Vernetzung und der gemeinsamen künstlerischen Produktion an diesem Novemberwochenende zu Ende geht. Zurück liegen die einwöchigen Besuche von vier Theater- und Tanzkompanien aus Deutschland und der Schweiz bei ihrem jeweiligen Tandempartner in Lyon, Marseille, Nancy oder Paris. Begegnungen, bei denen die Schauspieler*innen und Tänzer*innen Gelegenheit hatten, gemeinsame Workshops zu organisieren und Performances zu choreographieren – und die strukturellen Barrieren zu diskutieren, die Künstler*innen mit Behinderung in allen drei Ländern noch immer ausbremsen.
Was Melchior Malki am meisten stört, ist die Art und Weise, wie auf ihn und seine Ensemblekolleg*innen geblickt wird. „Wir haben uns mit unserer Behinderung abgefunden, wir haben sie sogar überwunden. Aber die Gesellschaft hat ein großes Problem mit ihr“. Der 27-Jährige spricht langsam und bestimmt, ohne den Blick abzuwenden, schulterlange braune Haare rahmen dabei sein Gesicht. Er ist festes Mitglied im Ensemble von Insolite Fabriq, einer inklusiven Theatergruppe aus Lyon, und tritt auf verschiedenen Bühnen der Metropolregion auf, vor Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen: Um seiner Leidenschaft nachzugehen und sein Talent zu demonstrieren, aber auch, um in einen Dialog mit dem Publikum zu treten und zu sensibilisieren – damit sich der Blick von außen eines Tages ändert und er als der professionelle Schauspieler wahrgenommen wird, der er ist.
Auch Jenny Ginat kennt diesen Blick. Entgegen aller Skepsis, entgegen den zahlreichen Fragen und entgegen der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Tanz und Rollstuhl, von der große Teile der Gesellschaft zu Unrecht überzeugt sind, sagt die 47-jährige Französin heute selbstbewusst und ohne Zögern in der Stimme, dass sie tanzt. Seit etwas mehr als einem Jahr ist sie fester Bestandteil der Compagnie Tatoo in Paris, die für inklusiven modernen Tanz steht und von der Choreographin Florence Meregalli geleitet wird. Gemeinsam mit vier weiteren Tänzer*innen mit und ohne Behinderung performt Jenny Ginat auf Bühnen in Paris und den angrenzenden Vorstädten. Erst im September war sie Solistin im Stück Laissez-nous danser, das 300 Künstler*innen verschiedener Sparten mit und ohne Behinderung auf der Bühne des imposanten Théâtre du Châtelet im Zentrum der französischen Hauptstadt versammelt hat. Und doch sind sich Melchior Malki und Jenny Ginat einig, dass es auch noch im Jahr 2024, dem Jahr der 17. Paralympischen Sommerspiele, an Akzeptanz für Menschen mit Behinderung in den darstellenden Künsten fehlt. Berührungsängste und Vorurteile bestehen weiter. Um die zu dekonstruieren, richtete sich MOBILE in seinen verschiedenen Projektphasen auch immer an die Öffentlichkeit. Ob mit frei zugänglichen Werkschauen in allen vier französischen Städten, einem öffentlichen Workshop in Kooperation mit dem Festival de Marseille oder einer Podiumsdiskussion in Paris zur Frage, wie vielfältig und inklusiv die Bühnen Europas sind. Auch am Abschlusswochenende des Projekts stehen die Theatertüren für Besucher*innen offen. Sie sind eingeladen, an deutsch-französischen Schauspielworkshops teilzunehmen.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen ist es dann so weit: Die Künstler*innen nehmen auf den Rängen des Berliner Theater Thikwa Platz, einem der bekanntesten Häuser Deutschlands, in denen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Theater spielen. Gleich wird der Film gezeigt, der während der vier Begegnungen in Frankreich entstanden ist. Und dann haben die MOBILE-Teilnehmer*innen Gelegenheit, das zu präsentieren, was sie in den vergangenen Wochen gemeinsam erarbeitet haben. Den Auftakt bildet eine darstellerische Hommage an die „weiße Stadt am Meer“, inszeniert von Schauspieler*innen des Klabauter Theaters in Hamburg und der Kompanien L’Autre Maison und Atelier de Mars aus Marseille. Bei der nachfolgenden Tanzperformance von tanzbar_bremen und Tatoo aus Paris erfüllen melodische Klänge den Raum, dazu das Quietschen der Rollstuhlreifen auf dem glatten weißen Bühnenboden. Jenny Ginat und Daniel Riedel rasen aus gegenüberliegenden Ecken des Raumes aufeinander zu, kommen abrupt zum Stillstand und legen völlig synchrone Kehrtwendungen ein, während sich in ihrer Mitte Zoé Bonneau zum Takt der Musik auf dem Boden windet. Im anschließend gespielten zweisprachigen Stück, gemeinsam produziert von Insolite Fabriq in Lyon und Theater Thikwa in Berlin, geht es um die U-Bahn. Neben Melchior Malki steht Torsten Holzapfel auf der Bühne. Seit 1991 bei Thikwa, gilt der gebürtige Berliner längst als Urgestein im Ensemble. Ist er nicht am Proben, findet man den 59-Jährigen meist im Thikwa-Atelier. Hier malt er mit einer Mischung aus akribischer Genauigkeit und Fantasie die Stationen der Berliner U-Bahn, von Alexanderplatz bis Voltastraße. Eine Mappe mit Fotografien seiner Bilder trägt er immer bei sich und zieht sie auch an diesem Wochenende mehrmals aus dem Rucksack, um seine Kunst mit leuchtenden Augen und einer sich vor Begeisterung überschlagenden Stimme zu präsentieren.
Für die letzte Performance treten schließlich die Schauspieler*innen vom Theater Hora in Zürich und der Kompanie Tout Va Bien aus Nancy auf die Bühne. Beide Theater setzen in ihrer künstlerischen Arbeit vor allem auf Improvisation – das, was Remo Beuggert am Theaterspielen die größte Freude bereitet. Mit großem Verblüffen stellte der 47-Jährige während seiner Reise nach Nancy fest, wie sehr die Arbeit von Tout Va Bien der von Hora ähnelt. Seit er 2012 festes Ensemblemitglied wurde, ist er viel unterwegs, spielt in New York, Singapur oder Macau. Doch noch nie habe er eine solche Harmonie im künstlerischen Austausch erlebt, wie bei der Begegnung mit der Truppe von Tout Va Bien. Diese Harmonie wird auch bei der gemeinsamen Performance deutlich. „Übersetzen“ nennt sich die Praktik, bei der die Schauspieler*innen aus Nancy und Zürich einen spontanen Dialog auf Deutsch und Französisch führen, ohne sich gegenseitig zu verstehen. Dabei wird das vom Gegenüber Gesagte in die eigene Sprache übersetzt – allerdings nur selten richtig und deshalb umso unterhaltsamer.
Mit der letzten Performance endet auch das Projekt MOBILE, das Künstler*innen aus acht Kompanien in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zusammengebracht hat. Bevor sich die Wege fürs Erste trennen, bilden die Teilnehmer*innen an diesem Samstagnachmittag einen Kreis auf der Bühne des Theater Thikwa. Es ist Zeit für abschließende Worte. Das Projekt sei ein coup de cœur gewesen, eine Herzensangelegenheit. Eine fantastische Erfahrung, mutmachend und verzaubernd. Abschließend resümiert ein Teilnehmer: „Ich habe keine Behinderung gesehen, nur Talent“ – und alle stimmen klatschend zu.
Gina Arzdorf
MOBILE ist ein Projekt des Goethe-Instituts mit den Kompanien Insolite Fabriq (Lyon) & Theater Thikwa (Berlin), Cie TATOO (Paris) & tanzbar_bremen, L'autre maison, L'Atelier de mars, Marseille & Klabauter Theater (Hamburg), Tout va bien, Nancy & Theater Hora (Zürich). In Kooperation mit den Festivals No Limits Berlin und euro-scene Leipzig sowie dem Institut français. Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Deutsch-Französischen Bürgerfonds und der Stiftung Erlebnis Kunst.