Zwei Literaturübersetzerinnen tauschen sich aus Was bedeutet sensibles Übersetzen zwischen Französisch und Deutsch?
Im Rahmen des Resonance-Programms der Goethe-Institute in Frankreich hatten wir, Anna von Rath und Justine Coquel, die Möglichkeit, ein Jahr als Tandem gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Wir sind beide Literaturübersetzerinnen und interessieren uns für diskriminierungssensibles Übersetzen. Also beschlossen wir, uns genau zu diesem Thema miteinander auszutauschen, zu recherchieren und Gespräche mit weiteren Übersetzer*innen zu führen.
Inventar
1 Jahr
2 Literaturübersetzerinnen
12 Treffen über Zoom
2 Treffen in Berlin und Strasbourg
6 Notizen (+ 7 Begriffe)
3 Verschriftlichte Gespräche
1 Abschlussveranstaltung
Viele offene Fragen
Rahmen
Diese Arbeit baut auf Annas Projekt macht.sprache. auf. macht.sprache. ist eine Diskussionsplattform und ein digitales Tool für sensibles Übersetzen zwischen Englisch und Deutsch. Das Projekt entstand 2021 und wurde von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen mit unterschiedlich positionierten Übersetzer*innen, Schriftsteller*innen und Journalist*innen begleitet. Doch jedes Sprachpaar stellt Übersetzer*innen vor andere Herausforderungen, was die Zusammenarbeit mit Justine motivierte.
Annahmen
Wie und in welchen Worten über gesellschaftliche Machtverhältnisse gesprochen wird, wandelt sich mit der Zeit. Diskurse über (sprachliche) Diskriminierung unterscheiden sich je nach Kontext. Literaturübersetzungen reisen nicht nur von einem Ort zum anderen, sondern beinhalten auch Geschichten, die in spezifischen geografischen, historischen, politischen, sozialen Kontexten spielen. Diese verschiedenen Ebenen müssen beim Übersetzen mitgedacht werden.
Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Wie Übersetzer*innen Texte interpretieren, hängt von ihrem Wissen und ihrem Erfahrungswissen ab. Deshalb ist es für eine sensible Übersetzungspraxis wichtig, sich mit der eigenen Rolle und der eigenen Positionierung im gesellschaftlichen Machtgefüge auseinanderzusetzen. Wir identifizieren uns beispielsweise beide als weiße Frauen, was bedeutet, dass wir von der weißen Vorherrschaft profitieren und durch das Patriarchat benachteiligt werden. Auch wenn wir diese Strukturen und unsere Positionierung kritisch hinterfragen, beeinflussen sie, welche Erfahrungen wir machen und wie wir auf die Welt – und auf Texte – blicken. Jede Perspektive ist auf ihre Weise beschränkt.
Recherche
Wir sind nicht die ersten, die über die Rolle von Übersetzer*innen nachdenken und sich für einen diskriminierungssensiblen Umgang mit Sprache interessieren. Besonders wichtig für unsere Recherche war die folgende Auswahl an Büchern:
Arndt, Susan und Nadja Ofuatey (Hg.). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Münster 2011.
Bhanot, Kavita und Jeremy Tiang (Hg.). Violent Phenomena. 21 Essays on translation. London 2022.
Buhl, Virginie und Laëtitia Saint-Loubert, Nicolas Froeliger, Edith Félicité Koumtoudji. Faut-il se ressembler pour traduire ? Légitimité de la traduction, paroles de traductrices et traducteurs. 2021.
Circlude, Camile. La Typographie post-binaire. 2023.
Grunenwald, Noémie. Sur les bouts de la langue. Traduire en féministe/s. 2021.
Hornscheid, Lann und Ja’n Sammla. Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht? Hiddensee 2021.
Gespräche
Im Rahmen unserer Tandem-Arbeit beschäftigten wir uns hauptsächlich mit Literatur aus den letzten 50 Jahren, die explizit den französischen Kolonialismus, den deutschen Rassismus und Gendervielfalt thematisiert. Wir kontaktierten einige der Übersetzer*innen der gelesenen Bücher, um über ihre Strategien zu sprechen. Lucie Lamy, Andreas Jandl und Rose Labourie erklärten sich bereit, uns Einblicke in ihre Praxis zu gewähren. (Ihr könnt die Gespräche hier lesen.)
Aus zeitlichen und finanziellen Gründen konnten wir nur drei Gespräche führen. Wir hätten gerne mit weiteren Übersetzer*innen gesprochen, um einer größeren Perspektivenvielfalt Sichtbarkeit zu geben. Auch wenn unsere Tandem-Arbeit jetzt endet, ist das Projekt der dialogischen Auseinandersetzung mit diskriminierungssensiblen Herangehensweisen in der Übersetzungspraxis keineswegs abgeschlossen. Unser Austausch war lediglich ein Anfang.
Begriffe
Unsere Recherchen und Gespräche machten deutlich, dass Übersetzungen zwar immer kontextabhängig sind, einzelne Begriffe Übersetzer*innen dennoch regelmäßig vor große Fragen stellen. Im Folgenden stellen wir einige davon vor.
Sowohl im Deutschen als auch im Französischen ist Gender grammatikalisch fest verankert. Traditionell handelt es sich um der/le, die/la, das/- oder er/il, sie/elle, es/-, also männlich, weiblich und sachlich. Damit schließt die Grammatik andere Geschlechter aus. Im Französischen ist dieses Phänomen manchmal noch prägnanter als im Deutschen, da auch Adjektive gegendert werden.
In der Literatur gibt es bereits zahlreiche Versuche, einen genderfreien oder genderinklusiven Sprachgebrauch zu entwickeln. Die deutsche Dichterin und Essayistin May Ayim verwendet häufig das in ihrer Zeit, in den 1990er-Jahren, übliche Binnen-I oder sie spricht von Menschen, die einer bestimmten Tätigkeit nachgehen, um die Genderzuschreibung zu umgehen. Lucie Lamy und Jean-Philippe Rossignol erklären, dass sie diese Vorgehensweise in der französischen Übersetzung imitieren, auch wenn diese Art des Genderns in Frankreich unüblich ist.
2022 wurde Kim de l’Horizon für den Roman Blutbuch mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Die Jury war besonders beeindruckt, dass de l’Horizon eine Sprache für eine nicht-binäre Erzählfigur fand. Rose Labourie musste in der Französischen Übersetzung besonders kreativ werden und hat sich z.B. bei Adjektiven für ein umgedrehtes e entschieden:
Ich wollte kein Gegenstand sein, ich wollte ein Mensch
sein und gross; und gross zu sein, bedeutete, ein Geschlecht zu
haben, ein männliches. Als Frau drohte einem, ein Gegenstand
zu bleiben oder ein Ozean zu werden. Das wollte ich nicht. (S.17)
Je ne voulais pas être un objet, je voulais être une personne et
je voulais être grandə ; et être grandə voulait dire choisir
son genre, être homme. Être femme vous condamnait
soit à rester objet soit à devenir océan. Je ne voulais pas. (S. 28)
Wie das englische “men”, kann das französische “homme” sowohl Mensch als auch Mann bedeuten. Damit steht der Mann indirekt für den Menschen und andere Geschlechter werden unsichtbar. Im Deutschen gibt es zwar die Unterscheidung zwischen Mann und Mensch, aber das Pronomen “man”, das für eine oder mehrere Personen generell steht, ist doch recht eng verwandt mit dem Mann. Queere deutschsprachige Communitys verwenden deshalb manchmal “mensch” als Pronomen, so auch Kim de l’Horizon in Blutbuch:
“Die Liebe der Meeren war so gross, mensch entkam ihr nicht, entkommt ihr nicht, mensch
schwimmt ein Leben lang, um aus den Meeren herauszukommen”. (S. 16)
Rose Labourie nutzt in der Französischen Übersetzung das genderfreie Pronomen “on”, was eine elegante Lösung ist, aber eventuell fällt in diesem Fall weniger auf, dass es sich im Original um eine klar queer konnotierte Wortwahl handelt:
“L’amour des mers était immense, on n’y échappait pas, on n’y échappe pas, on nage toute une vie pour sortir des mers.” (S. 26)
Sprachen unterscheiden sich und daraus folgt, dass unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund oder in den Hintergrund rücken. Sicher lohnt es sich, diese Verschiebungen im Auge zu behalten.
“Afrodeutsch” ist ein Begriff von Schwarzen Deutschen für Schwarze Deutsche. Er entstand als Selbstbezeichnung in den 1980er-Jahren in Anlehnung an “Afro-Amerikanisch”. Der Begriff “Afrodeutsch” kennzeichnet das afrikanische Erbe, die Erfahrungswelt und die geschichtliche Zugehörigkeit von Schwarzen Menschen in Deutschland. Die Dichterin und Aktivistin May Ayim gehörte zu denjenigen, die den Begriff prägten. Sie verwendet ihn in ihren Gedichten und Essays. “Afrodeutsch” kann als “afro-allemand” übersetzt werden, obwohl “francais noir” oder “Noir de France” gängigere Selbstbezeichnungen Schwarzer Französ*innen sind. (Mehr zur Übersetzung von May Ayim im Interview mit Lucie Lamy.)
Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich gibt es einen Begriff mit N., den weiße Menschen erfunden haben, um Schwarze Menschen von sich selbst zu unterscheiden, abzuwerten und auszubeuten. Die Begriffe haben jeweils eigene Geschichten, aber sie hängen beide mit dem europäischen Kolonialismus und Rassismus zusammen. In Deutschland hat es sich mittlerweile relativ etabliert, dass das Wort vermieden oder abgekürzt wird, um den Rassismus, den es beinhaltet, nicht mehr zu wiederholen. In Frankreich taucht der Begriff hin und wieder noch in zeitgenössischer Literatur auf, z.B. in Mohamed Mbougar Sarrs Die geheimsten Erinnerungen der Menschen (2023) übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller oder in David Diops Reise ohne Wiederkehr (2022) übersetzt von Andreas Jandl. Übersetzer*innen müssen sich dann entscheiden und können sich u.a. fragen: Wählen sie den wie eine Entsprechung wirkenden rassistischen deutschen Begriff in dem Wissen, dass dieser eigentlich eine etwas andere Geschichte in sich trägt und der Vergangenheit angehört? Können sie auf andere Formulierungen oder zumindest andere Schreibweisen ausweichen? Oder lehnen sie den Auftrag ab? Es gibt dafür keine allgemeingültige Lösung. Wie sich Übersetzer*innen entscheiden hängt sicherlich auch von der eigenen Beziehung zum Rassismus ab. (Eine Reflexion über mögliche Herangehensweisen findet sich im Interview mit Andreas Jandl.)
Die direkte deutsche Übersetzung für “métis·se” ist ein rassistischer Begriff, der auch für Hunde verwendet wird, die das Ergebnis einer Kreuzung verschiedener Zuchtlinien sind. Um den rassistischen Gehalt nicht wiederholen zu müssen und in Ermangelung eines anderen Begriffs, werden im Deutschen aktuell häufig Ausdrücke aus dem Englischen herangezogen, z.B. “mixed-race”, “biracial” oder “Person of Color”. Diese Herangehensweise kann jedoch von Personen, die kein Englisch sprechen, als elitär und ausschließend empfunden werden.
Je nach Kontext könnte “métis·se” auch als “Schwarze Person” ins Deutsche übersetzt werden, da sich in Deutschland einige mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil als Schwarz positionieren. So macht es z.B. die deutschsprachige Autorin Emilia Roig, die in Frankreich aufgewachsen ist. In einigen Interviews mit verschiedenen deutschen Zeitungen erklärt sie, dass sie sich, als sie in Frankreich aufwuchs, als métisse bezeichnet hatte. Rückblickend ist ihr klar, dass ihr die Hierarchisierung von Menschen anhand von Race schon als Kind irgendwie klar war und sie mit ihrer Eigenbezeichnung eigentlich ausdrückte, nicht ganz so Schwarz und damit näher an weißen Menschen zu sein. In Deutschland bezeichnet sie sich heute als Schwarz.
Der Begriff Schwarz (mit großem S) ist eine politische Selbstbezeichnung ähnlich wie Afrodeutsch. Der Begriff dient dazu, rassistische Strukturen und damit verbundene Erfahrungen thematisieren zu machen.
In jedem Kontext gibt es unterschiedliche Beleidigungen für marginalisierte Gruppen. In Deutschland wurde “Kanake” bis in die 1980er-Jahre vornehmlich als rassistische Fremdzuschreibung von weißen Deutschen für türkische Migrant*innen verwendet. Daraufhin kam es zu einer selbstermächtigenden Aneignung des Begriffs durch diejenigen, die bis dahin durch seine Verwendung gewaltsam abgewertet werden sollten.
May Ayim verwendet den Begriff in Anführungszeichen in ihrem Gedicht Gegen Leberwurstgrau für eine bunte Republik, um zu zeigen, dass bestimmte Gruppen durch Bezeichnungen und Handlungen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft rassistisch ausgeschlossen werden.
Der deutsche Begriff ist so kontextspezifisch, dass es keine französische Entsprechung gibt. Lucie Lamy und Jean-Philippe Rossignol wählen in ihrer Übersetzung des Gedichts “le rebeu” (“Nordafrikaner”) und erklären im Nachwort, dass der Begriff die doppelte Konnotation von Beleidigung und Wiederaneignung durch die Zielpersonen wiedergeben soll, auch wenn er dem deutschen Begriff nicht direkt entspricht.
Mit der europäischen Kolonisation entstanden zahlreiche kolonialrassistische Zuschreibungen für die lokalen Bevölkerungen in den kolonisierten Gebieten. Die Begriffe “Le chef” oder “Häuptling” dienen in der Regel ganz pauschal als Bezeichnung für diverse Machthaber*innen und Politiker*innen kolonisierter Gesellschaften auf dem amerikanischen und afrikanischen Kontinent. Diese Bezeichnungen ignorieren und verdecken die Komplexität und die Eigenheiten lokaler politischer Strukturen. Diese Begriffe werden auch heute noch verwendet.
Wie in den vorherigen Beispielen bereits angedeutet, macht es einen Unterschied, wer einen Begriff benutzt. Er wird manchmal von Indigenen Autor*innen selbst verwendet, z.B. in Kibogos Himmelfahrt (2024) der in Frankreich lebenden ruandischen Schriftstellerin Sholastique Mukasoga oder in Uiesh. Irgendwo (2022) von der kanadischen Innu Dichterin Josephine Bacon. Die Übersetzungen sind von Jan Schönherr, Jennifer Dummer und Andreas Jandl angefertigt worden, die in einer anderen Beziehung zur Kolonialgeschichte stehen.
Ein Jahr später
Wir können sagen: Wir haben viel gelernt, während unserer einjährigen Zusammenarbeit. Und eine der wichtigsten Lehren ist: Es gibt keine allgemeingültigen Lösungen, die zu einer diskriminierungsfreien Übersetzung führen. Jedes Projekt bedarf vorsichtiger Abwägung. Kate Briggs fragt in This Little Art, ob Übersetzer*innen nicht per se bereit sein müssen, sich öffentlich zu blamieren – zumindest, wenn sie ihre Übersetzungen veröffentlichen. Sie gibt keine Antwort, aber vielleicht ist an der Frage etwas dran, vor allem wenn es um sensible, politische Themen geht.
Ein Jahr ist nicht sehr lang, daher bitten wir, die versammelten Beiträge als Schlaglichter zu verstehen, die keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Unsere Perspektiven sind aufgrund unserer Positionierungen und unserer Lebens- und Arbeitserfahrungen begrenzt. Wir freuen uns, wenn die Beiträge als Einladung für viele weitere Gespräche dienen, wenn die offen gebliebenen Fragen aufgegriffen werden, und wenn die Perspektiven von Menschen mit anderem (Erfahrungs-) Wissen hinzukommen.