Diversität
Neue Narrative für eine neue Welt

Um einen großen Konferenztisch herum sitzen Teilnehmende des Workshops. Am Kopfende sitzt Letícia Milano und spricht zu den Teilnehmenden.
Das „Büro für vielfältiges Erzählen“ bei einem Workshop über Teilhabe im Film | Foto (Ausschnitt): © Bojan Ratan

Seit 2018 begleitet das Berliner „Büro für vielfältiges Erzählen“ Buch- und Filmautor*innen bei ihrem Schaffensprozess, um inklusivere und weniger diskriminierende Szenarien zu erstellen – sodass auch Alter, Aussehen, Behinderung, Geschlecht, Hautfarbe, soziale Herkunft oder Sexualität thematisiert werden. Wir sprechen mit den Gründerinnen Letícia Milano und Johanna Faltinat.

Von Claire Géhin

Welche Werke haben euch in eurer Jugend geprägt und wie habt ihr erkannt, dass ihr andere Geschichten braucht?

Letícia Milano: Seit ich aus Brasilien nach Deutschland ausgewandert bin, habe ich mich sehr verändert. Zuvor wurde meine Welt von eurozentrischen Männern dominiert, und Feminismus war ein Schimpfwort. Als Jugendliche las ich García-Márquez, Borges … Und irgendwann fragte ich mich schließlich: Was habe ich da eigentlich gelesen und gesehen? Heute entscheide ich das ganz bewusst: Wenn mich ein Thema interessiert, schaue ich zuerst, was Frauen darüber geschrieben haben, oder ich suche nach anderen Perspektiven aus anderen Kulturkreisen.

Johanna Faltinat: Mein politisches Bewusstsein hat sich nach meinem Studium entwickelt. Ich wuchs in einem westdeutschen, feministisch geprägten Umfeld auf. Ein Film, der mich sehr beeindruckt hat, war Jenseits der Stille. In der Literatur war es vor allem Grossmann, ein israelischer Autor. Auch mir ist es wichtig, Werke von Frauen zu konsumieren, weil das ein wirtschaftlicher Faktor ist, ich muss aber hinzufügen, dass auch Bücher von Frauen sexistisch sein können!
Als Letícia und ich uns 2016 kennenlernten, sprachen wir über Feminismus, den Ausschluss aus der Gesellschaft, Darstellungen in Geschichten und die Wiederholung derselben Narrative. Wir stellten fest, dass eine Sensibilisierung nicht ausreicht. Darum führten wir 2018 einen ersten Workshop durch, um aus unseren Überlegungen konkrete Instrumente für Kreative zu entwickeln.

Auf eurer Website steht: „Das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern dass sie unvollständig sind.“ Was bedeutet das?

Letícia Milano: Nehmen wir als Beispiel eine migrantische Figur in einer hero’s journey. Jemand kommt in ein neues Land, passt sich an, erlernt die dortige Sprache und Kultur. Wunderbar! Aber eine solche Erzählung stellt die Ursachen der Migration in den Hintergrund und bedient in Wirklichkeit unsere liberale, kapitalistische Weltsicht. Manchmal verharren wir bei einer sehr einfachen Darstellung und machen aus einer Figur nur eine*n Migrant*in, nur eine*n Geflüchtete*n – und sonst nichts. Das verschleiert die Tatsache, dass sich diese Figuren anpassen müssen und ewig als Fremde betrachtet werden. Darum haben wir die Werkstatt „THE SISTERHOOD JOURNEY“ geschaffen, in der es darum geht, eine zeitgemäße Dramaturgie zu finden, die auch Fragen der Diskriminierung einschließt und andere Formen des Zusammenlebens vorstellt.

Johanna Faltinat: Bei der Lektüre von Mai-Anh Bogers Politiken der Inklusion erkannten wir, auf welche Weise unterschiedliche Perspektiven innerhalb einer Randgruppe entstehen können. Jedes Individuum in einer solchen Gruppe stellt sich im Vergleich zu nicht marginalisierten Personen eine zusätzliche Frage, nämlich: Wie verhalte ich mich angesichts dieser Diskriminierung? Das hat uns sehr geholfen zu verstehen, wie wir vorgehen wollen, um zur Darstellung einer größeren Vielfalt von Perspektiven zu ermutigen.

Letícia Milano: Bei der Erarbeitung einer Biografie gibt es wesentliche Fragestellungen, die Bausteine für die Persönlichkeit der Figuren liefern. Ist eine Figur dick? Ist diese Figur der oder die einzige Dicke in der Familie? Wer sind ihre Vorbilder? Wo findet sie die Ressourcen, um damit zu leben? Wie reagiert diese Figur auf eine Form von Normalität? Ist diese Figur von intersektioneller Diskriminierung betroffen? Und die Figuren beeinflussen wiederum die Dramaturgie.

Wie wird eure Arbeit in der Kulturszene wahrgenommen?

Letícia Milano:
Das sind sehr heikle Themen. Es herrscht Angst vor einer Zensur und davor, zu glatte Erzählungen zu produzieren. Aber die Kunst wird von Bildern beeinflusst, von Erzählungen, die wir alle teilen. Unser Ansatz ist die Frage: Wo bin ich wirklich frei bei dem, was ich erzähle? Wo wiederhole ich Dinge, die ich eigentlich nicht verbreiten will? Erst wenn wir das gesamte Bild betrachten, können wir bewusste Entscheidungen darüber treffen, wie wir mit Stereotypen umgehen, statt immer wieder dieselben Narrative von heteronormativen Paaren und klassischen Kernfamilien zu erzählen, die eine Gesellschaft widerspiegeln, in der man Erfolg hat, wenn man sich anpasst. Um diese Gesellschaft zu verändern, brauchen wir unsere gesamte Darstellungskraft.

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