Verkehrswende
Paris auf dem Weg zur Stadt der 15 Minuten?
Klimawandel, Nachhaltigkeit und damit auch die Verringerung von CO2-Emissionen gehören zu den dringenden Themen unserer Zeit. Doch es sind nicht nur ökologische Fragen, die das Wachstum von Großstädten in Frage stellen. Gerade offenbart auch die Corona-Pandemie ein großes Bedürfnis nach städtischer Neukonzeption. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, stellt sich der Herausforderung und sieht Paris in der Zukunft als „Stadt der 15 Minuten“. Doch die Umsetzung ist umstritten.
Von Stefanie Eisenreich
Wer träumt in einer Großstadt nicht davon, in 15 Minuten alles zu erreichen, was der moderne Mensch zum Leben braucht: den Arbeitsplatz, Freizeitaktivitäten, Grünflächen, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Kindergärten, Restaurants, Vereine und Orte, an denen das kulturelle Leben pulsiert? Wer wünscht sich hier nicht die perfekte Stadt, die weitgehend autofrei Ruhe und Erholung, aber dennoch Dynamik und vor allem soziale Nähe bietet? Die Stadt der 15 Minuten (Ville du Quart d‘heure) verspricht genau das. Weltweit experimentieren bereits mehrere Städte mit diesem Smart-City-Konzept. Nun ist Paris an der Reihe.
Paris – dichter als New York und New Delhi
Die französische Hauptstadt gilt als eine der dichtesten Städte der Welt. Über 20.000 Einwohner verteilen sich hier im Durchschnitt auf einen Quadratkilometer. Autofahrer, öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad- und Rollerfahrer, Fußgänger – sie alle streiten sich täglich um den nötigen Platz auf den engen Straßen von Paris. Zahlen des nationalen Instituts für Statistik, kurz INSEE, zeigen deutlich: Zu Stoßzeiten erstickt die Stadt im Verkehr, Staus sind der Normalzustand, die öffentlichen Verkehrsmittel überfüllt.
Knapp zwei Millionen Einwohner zählt die Stadt. Ein leichter Trend zeigt auch, dass mehr und mehr Menschen in die nahegelegene Banlieue ziehen, nicht zuletzt aufgrund steigender Mietpreise. Insgesamt zählt die gesamte Region Île-de-France etwas über zwölf Millionen Einwohner. Circa vier Millionen Menschen pendeln täglich aus den Vororten nach Paris oder müssen Paris durchqueren, um zur Arbeit zu gelangen. Knapp 60 Prozent von ihnen nutzen das Auto.
Um dessen übermäßiger Nutzung den Kampf anzusagen, hatte Anne Hidalgo, amtierende Bürgermeisterin von Paris Ende Januar 2020, lange vor dem ersten Lockdown, aber bereits im Hinblick auf die anstehenden Kommunalwahlen im März, Pläne für die Umwandlung der Hauptstadt in eine autofreie Stadt bekanntgegeben. Die Stadt der 15 Minuten war zentraler Bestandteil ihrer Wahlkampagne, mit der sie am 28. Juni in der zweiten Runde weit vor Rachida Dati und Agnès Buzyn die Kommunalwahlen für sich entschied.
Dezentralisierte Stadtorganisation
Die Idee stammt von Carlos Moreno, Urbanist und Professor an der Pariser Universität Paris I, der im Rahmen der Recherchen für diesen Artikel für ein persönliches Gespräch leider nicht zur Verfügung stand. Basierend auf Morenos Konzept des Chrono-Urbanismus (inspiriert von Jane Jacobs Living City), soll eine dezentralisierte Stadtorganisation umgesetzt werden, die den Bewohnern und Bewohnerinnen mehr Lebenszeit schenken soll. Von jedem Ort der Stadt aus soll innerhalb von 15 Minuten alles erreichbar sein, was man im Alltag braucht – wenn möglich mit dem Fahrrad. 60.000 innerstädtische Parkplätze will Anne Hidalgo dafür entfernen lassen. An ihrer Stelle sollen Grünflächen, Spielplätze und weitere Fahrradwege angelegt werden.
Anne Hidalgo ist mittlerweile bekannt für ihr Vorhaben, Paris nachhaltig umgestalten zu wollen. So ließ sie Seine-Ufer für Autos sperren und trieb den Ausbau von Fahrradwegen voran, um Luft- und Lebensqualität in der Hauptstadt zu verbessern. Dazu gehört auch die Bepflanzung mit weiteren 170.000 neuen Bäumen (20.000 waren es in ihrer ersten Amtsperiode). In der gesamten Region Île-de-France entstanden seit 2016 bereits mehr als 700 Kilometer Radwege. „In meinem Viertel wurde die Rue de la Chapelle so umgestaltet, dass zwei Fahrradspuren sowie zwei Busspuren entstanden sind und Bus und Rad nun mehr Vorrang haben“, erklärt Ralph Winter, der an der Universität Nancy lehrt und im 18. Arrondissement von Paris wohnt. „Autos dürfen die Straße stadteinwärts nicht befahren, stadtauswärts gibt es nun nur noch eine Spur. Das garantiert tatsächlich schnelleres Vorankommen mit Bus und Rad und weniger Lärm“, freut sich der 41-Jährige.
Utopie oder Zukunftsmusik?
„Es bringt natürlich unglaublich viel Lebensqualität, wenn alles in 15 Minuten erreichbar ist“, bestätigt Edouard Civel, stellvertretender Bürgermeister des 5. Arrondissements von Paris, der an der Polytechnischen Universität in Paris zu neuen Formen der urbanen und sozialen Ökologie sowie grüner Wirtschaft lehrt und forscht. Doch was auf dem Papier gut aussieht, wird in der Umsetzung sehr kontrovers diskutiert. Kritikerinnen wie die Journalistin Alice Delaleu werfen Hidalgo vor, die Vororte und Randviertel außen vor zu lassen: „Durch die Schaffung der Stadt der Viertelstunde baut die Stadt neue Mauern und versinkt im Egoismus“, schreibt sie in dem Online-Magazin Chroniques d‘architecture. Auch Ralph Winter, der sich einerseits über die neuen Fahrradwege freut, sieht die Umsetzung auf der anderen Seite kritisch: „Ich frage mich, ob sich dadurch das Problem des Autoverkehrs nicht nur verlagert: Die Rückstaus abends in Richtung Porte de la Chapelle werden noch länger und morgens entstehen stadteinwärts anderswo neue Staus, solange die entfernteren Vororte noch nicht ausreichend an die Metro angebunden sind.“
Ein Umstand, den auch Edouard Civel für problematisch hält: „Ich denke nicht, dass die Methode, Autofahrern das Leben zur Hölle zu machen, indem man auf anarchische Weise Fahrspuren sperrt, von heute auf morgen die Fahrtrichtungen umkehrt und damit die Stadt verstopft, die richtige ist“, betont der 29-Jährige. Was hier außerdem unbedingt bedacht werden müsse, sei die zukünftige Veränderung einer immer älter werdenden Bevölkerung. „Zum ersten Mal leben heute vier Generationen zusammenund nicht mehr nur noch drei. Und diese vierte Generation wird auch in Zukunft andere Bedürfnisse und altersbedingte Zwänge haben, aufgrund derer die Menschen dieser Generation nicht in der Lage sein werden, systematisch etwas anderes als das Auto zu nutzen.“ Paris sei außerdem jetzt schon aufgrund der hohen Mietpreise sehr homogen, für Civel jedoch müsse eine Stadt immer inklusiv bleiben. Für ihn sei daher klar, dass Paris für die Umsetzung einer autofreien Stadt die Métropole, also die Gesamtheit aller Vororte, einbeziehen muss.
Weltweites Experiment
Es ist ein Experiment, das weltweit Anhänger kennt und in ähnlicher Art und Weise in Städten wie Oslo oder Gent bereits Umsetzung findet. Der dortige circulation plan sah vor, die Nutzung des Fahrrads bis 2030 von 22 auf 35 Prozent zu erhöhen. 2017 begann man mit der Umsetzung. Es wurden etwa Flüsse trockengelegt und zu Parkplätzen umfunktioniert. Zwei Jahre danach war das 35-Prozent-Ziel bereits erreicht. Auch die englische Stadt Birmingham kündigte in diesem Jahr einen circulation plan an. Ein Teil der Flächen, die dort heute ausschließlich dem Auto vorbehalten sind, sollen für den öffentlichen Verkehr umstrukturiert werden. Parkplätze sollen durch Wohnungen und Arbeitsstätten ersetzt werden. Immer mehr Städte lassen sich von diesen Modellen überzeugen. New York, London, Barcelona – sie alle schließen sich diesem Umdenken an. Im letzten Jahr verabschiedete zum Beispiel der New Yorker Stadtrat ein Gesetz, um der Autokultur entgegen zu wirken: In den nächsten zehn Jahren sollen dort 1,7 Milliarden Dollar investiert werden, um die Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger zu verbessern.
Smart Cities, die sich den dringenden Fragen der heutigen Zeit stellen und die sich auf Basis eines nachhaltigeren Modells verändern sind längst keine Utopie mehr. Doch Paris gehört zu den Städten, die nicht ohne ihre Vororte umgedacht werden können. Solange daher die öffentlichen Verkehrsmittel nicht ausgebaut sind – das Projekt Grand Paris, das die weiter gelegenen Vororte über öffentliche Verkehrsmittel und bessere wie schnellere U-Bahn-Verbindungen mit Paris verbinden wird, soll schrittweise bis 2030 fertig gestellt werden – und Überlegungen zu Mietpreisen und einer Dezentralisierung von Arbeitsplätzen nicht einfließen, bleibt die Umsetzung der Stadt der 15 Minuten in Paris umstritten.