Gabriele Kniffka im Interview
„Scaffolding ist ein sprachliches Gerüst“
Fachunterricht erfordert spezifische sprachliche Kenntnisse. Doch damit haben gerade Kinder aus bildungsfernen Milieus oder mit Deutsch als Zweitsprache oft Schwierigkeiten. Scaffolding ist eine gute Technik, um den Fachunterricht sprachsensibel zu gestalten.
Von Marguerite Seidel
Frau Prof. Kniffka, was versteht man unter Scaffolding?
Beim Scaffolding geht es um Sprachvermittlung im Fachunterricht – etwa in Mathematik, Geografie oder Geschichte – wobei die Fachinhalte nach wie vor im Vordergrund stehen. Der Begriff ‚Scaffolding‘ kommt aus dem Englischen und bedeutet ‚Gerüst‘. Durch das Vorgeben sprachlicher Gerüste kann man einem weniger kompetenten Sprecher helfen, etwas sprachlich auszudrücken, was er alleine noch nicht bewältigen könnte.
Warum ist Sprachbildung im Fachunterricht wichtig?
Sprachkompetenz und Schulerfolg hängen eng zusammen. In der Schule sind sogenannte bildungssprachliche Kompetenzen gefordert. Fehlen diese, kommt es schnell zu Leistungsdefiziten. Das wurde immer wieder in den großen Schulleistungsstudien, etwa PISA, nachgewiesen. Benachteiligt sind vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund, die zu Hause eine andere Sprache als in der Schule sprechen, denn das sprachliche Verhalten im Elternhaus prägt die Sprachkompetenz. Werden im Elternhaus keine oder nur wenige Praktiken in bildungssprachlichen Registern des Deutschen ausgeübt, wirkt sich das auf die Sprachkompetenz der Kinder aus. Sie können dann unter Umständen Textaufgaben im Fach Mathematik nicht verstehen. Davon aber einmal abgesehen: Jedes Schulfach bringt eine eigene Fachsprache mit sich, Fachvokabular, fachliche Denk- und Arbeitsweisen. Der Deutschunterricht kann diese Art der Sprachbildung nicht alleine schultern. Die fachsprachliche Bildung ist Aufgabe der Fächer. So ermöglicht Schule allen Kindern Chancen auf Bildungserfolge.
Sprachlichen Kompetenzaufbau unterstützen
Wo ist das Scaffolding-Verfahren im Unterricht einsetzbar?Grundsätzlich in allen Unterrichtsfächern. Mit neuen Inhalten geht der Erwerb neuer Sprache einher. Sie sprechen im Fach Geschichte beispielsweise über „Lehnsherren“. Das ist nicht nur ein Wort, dahinter steht ein umfassendes Konzept, welches gelernt und vermittelt werden muss. Oder die Kinder lernen in Mathematik flache Winkel kennen. Das Wort „flach“ ist aus der Alltagssprache vielleicht bekannt, aber in der Geometrie ist es ganz anders konnotiert. Der Unterricht fordert außerdem Sprachhandlungen , die eingeübt werden müssen, etwa das Argumentieren, Beschreiben, Erläutern, Zusammenfassen. Diesen sprachlichen Kompetenzaufbau kann man mithilfe von Scaffolding-Techniken unterstützen.
Wie gehe ich als Lehrender vor, um solch ein Unterstützungssystem zu entwickeln?
Die australische Sprachwissenschaftlerin und Didaktikerin Pauline Gibbons, die das Scaffolding-Verfahren geprägt hat, unterscheidet zwei Bereiche: Unterrichtsplanung und Unterrichtsinteraktion. Um den Unterricht zu planen, analysiert die Lehrkraft zuerst das einzusetzende Material: Was ist das Thema? Welche Sprachhandlungen, Strukturen oder Wörter werden etwa von den Schülern gefordert? Diese Anforderungen werden mit deren Sprach- und Wissensstand abgeglichen. Auf dieser Basis legt die Lehrkraft die fachlichen und sprachlichen Lernziele der Unterrichtsstunde oder einer Unterrichtsreihe fest und verknüpft so sprachliche und fachliche Ziele miteinander. Man überlegt dann, welche Hilfen die Schüler aktuell benötigen, um diese Ziele zu erreichen.
Wie gestaltet sich die Unterrichtsinteraktion beziehungsweise die Unterrichtspraxis?
Eine mögliche Vorgehensweise wäre, fachlich vom Konkreten zum Abstrakten und auf der sprachlichen Ebene von der Alltags- zur Fachsprache fortzuschreiten. Die Schüler sollen zum Beispiel in Geografie als fachliches Ziel die Funktionsweise des Kompasses kennenlernen. Sprachliches Ziel ist es, den Kompass in seinen Bestandteilen beschreiben zu können. Die Schüler experimentieren zunächst in Partnerarbeit mit einem Kompass und beschreiben in ihrer Alltagssprache, was sie beobachten. Im nächsten Schritt präsentieren sie ihre Ergebnisse im Plenum. Sie müssen nun eine genauere Sprache gebrauchen, weil sie den Kompass nicht mehr in der Hand halten. In dieser Phase führt die Lehrkraft fachsprachliche Begriffe ein: ‚die Windrose‘ oder ‚die Kompassnadel‘. Scaffolding bedeutet in diesem Fall, dass das, was ich in meiner Alltagssprache kennengelernt und verstanden habe, lexikalisch aufgebaut wird. Danach könnte man weiterexperimentieren und Satzstrukturen vorgeben. Ganz am Schluss sollten die Schüler in der Lage sein, einen Schulbuchtext zum Thema Kompass selbstständig zu lesen und zu verstehen, oder je nach Altersstufe sogar einen eigenen Text zu verfassen. Scaffolding ist darauf angelegt, dass Schüler auf mittlere oder längere Sicht immer selbstständiger werden: Scaffolding sollte also zu seiner eigenen Abschaffung führen.
Unterrichtsvorbereitung im Fremdsprachenunterricht
Inwiefern ist Scaffolding bereits in internationalen Vorbereitungsklassen, sprich bei Sprachanfängern, einsetzbar?Auch im Fremd- und Zweitsprachenunterricht lassen sich Scaffolding-Techniken sehr gut anwenden. Vorbereitungsklassen dienen ja nicht vorrangig dazu, Alltagsdeutsch zu lernen. Sie bereiten die Schüler auf ihre Rolle als Lernende im Regelunterricht vor. Dort müssen sie Tabellen beschreiben, sich aus Texten fachliches Wissen aneignen oder argumentieren. Anhand authentischer schulischer Inhalte kann man dies bereits in der Vorbereitungsklasse systematisch einführen.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Nehmen wir die aus dem Sprachanfängerunterricht typischen Chunks, also kleine Sprachblöcke wie ‚Ich komme aus … / Er kommt aus …‘. Die Schüler können diese zum Beispiel in Geografie einsetzen, indem sie etwa eine einfache Tabelle beschreiben, in der es um die Herkunft bestimmter importierter Waren oder um die Erstellung einer thematischen Weltkarte geht. Wo Kakao oder Erdbeeren angebaut werden, können sie in ihrer Muttersprache recherchieren, und die Ergebnisse mit wenigen sprachlichen Mitteln auf Deutsch in einer Weltkarte darstellen und präsentieren: „Kakao kommt aus …“. Fachinhalte und Arbeitstechniken aus der Sekundarstufe I lassen sich so in einfacher Weise erarbeiten und ausgehend von Alltagssprache auf die sprachlichen Anforderungen in der Schule übertragen.
Scaffolding ist nachhaltiger
Gibt es Nachteile beim Einsatz von Scaffolding?Ja, die Unterrichtsvorbereitung ist deutlich aufwendiger. Auch der Unterricht selbst schreitet langsamer voran, aber er ist nachhaltiger. Die Schüler erzielen bessere Ergebnisse.
Brauchen Lehrende eine besondere Schulung, um mit Scaffolding-Techniken zu arbeiten, etwa im Bereich DaZ?
Ich würde Fortbildungen in diesem Bereich empfehlen. Meine Erfahrung ist, dass Fachlehrkräfte, die nicht zugleich auch Sprachlehrerinnen oder -lehrer sind, sich schwertun mit dem Identifizieren sprachlicher Anforderungen. Auch das Formulieren beziehungsweise Verknüpfen sprachlicher und fachlicher Lernziele bedarf der Einübung.
Welche Entwicklungspotenziale sehen Sie für Scaffolding?
Wer Scaffolding ausprobiert hat und den Erfolg erleben durfte, ist in der Regel begeistert. Doch in Lehrplänen, Schulbüchern und in der Lehrerausbildung ist das Verfahren noch nicht hinreichend verankert. Die Bildungspläne geben zwar vor, dass Inhalte adressatengerecht vermittelt werden müssen. Nur sind diese Vorgaben oft noch unspezifisch, wenn es um die praktische Umsetzung geht.