Martin Luther
Superstar mit Abgründen

Martin Luther als Spielfigur
Martin Luther als Spielfigur | Foto (Ausschnitt): © Playmobil

Vor dem Reformationsjubiläum 2017 ist Martin Luther Gegenstand vieler Debatten. Mancher fürchtet, er würde überhöht, seine Schattenseiten fielen zu wenig ins Gewicht. Kann man Luther feiern und zugleich Distanz wahren?
 

Martin Luther ist etwas mehr als sieben Zentimeter groß und sein Herz schlägt aus Plastik. In der einen Hand hält er eine aufgeschlagene Bibel, in der anderen einen Federkiel. Die Spielfigur des Reformators von Playmobil ist ein Bestseller. Auch Luther-Socken und Luther-Likör laufen gut. Sein Konterfei gibt es zudem auf Tellern, Tassen und Frisbee-Scheiben.
 
1517 machte Martin Luther (1483–1546) seine damals revolutionären Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg publik. Den Beginn der Reformation vor 500 Jahren wollen die evangelische Kirche, die Bundesregierung und mehrere Bundesländer mit zahlreichen Großveranstaltungen und Ausstellungen feiern. Am 31. Oktober 2016 geht es los. Doch während Luther einerseits zunehmend verkitscht wird, geraten auch seine Schattenseiten in den Blick. Kann man, ja darf man Luther überhaupt feiern?, fragen Journalisten, Historiker und Kulturwissenschaftler in den Feuilletons der Zeitungen, in Fachzeitschriften und Büchern – und kritisieren die Pläne zum Reformationsjubiläum.

Agitation gegen Juden

Luther lehnte sich gegen den sogenannten Ablasshandel der katholischen Kirche auf. Dabei sollten die Gläubigen Geld zahlen, damit ihnen die Zeit im Fegefeuer verkürzt würde. Jeder Mensch sei von Gott geliebt und angenommen, argumentierte dagegen Luther. Dafür müsse man kein Geld zahlen, es reiche der feste Glaube.
 
Dieser Gedanke erschütterte die Kirche und führte zur heilsamen Emanzipation vieler Menschen von den Dogmen der Päpste. Doch Luthers Ansichten spalteten die Kirche und stürzten Europa in blutige Glaubenskriege. Außerdem hetzte der Reformator gegen Juden und Muslime. „Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding“, schrieb er und rief zur Zerstörung von Synagogen auf. Seine Abscheu gegen die aufständischen Bauern ermutigte die Fürsten zudem, brutal gegen ihre Untertanen vorzugehen.
 
Noch bei den Feierlichkeiten zum 400. Jubiläum interessierte sich niemand für Luthers Abgründe. Er galt als eine Art Nationalheiliger, der siegesgewiss und mit der Bibel in der Hand Geschichte schrieb. Seine Standhaftigkeit vor Papst und Kaiser musste im Ersten Weltkrieg für die religiöse Erhöhung deutscher Opferbereitschaft herhalten.

Vielen gefällt die Idee vom Vordenker der Demokratie

Nicht wenig von dem, was damals gesagt und geschrieben wurde, ist der Kirche heute aus gutem Grund peinlich. Nach Naziterror, Krieg und Zerstörung wirkt Luther als deutscher Nationalheld deplatziert, da ist sich die Kirche mit Historikern und Politikern einig. Doch ist es möglich, Luther zu feiern und sich zugleich von allem Heroischen und Abgründigen zu distanzieren?
 
Die evangelische Kirche möchte Luther 2017 als „kraftvolle Symbolfigur“ präsentieren, „die wie viele große historische Persönlichkeiten zum Widerspruch herausfordert, aber gleichzeitig mit Beharrlichkeit, Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt“. Die Reformation soll als europäische „Freiheitsgeschichte“ dargestellt werden, die zur Ausbildung der modernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfreiheit beitrug, das Verhältnis von Kirche und Staat veränderte und das moderne Demokratieverständnis beförderte. Auch der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten gefällt die Idee, Luther als Vordenker von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie zu feiern. „Martin Luther Superstar“ betitelte der Deutsche Kulturrat eine Publikation zum Jubiläum.

Beliebte Mythen zertrümmern

Vielen Historikern geht das zu weit. Luther sei kein Pionier der Neuzeit gewesen, sagt etwa Daniel Jütte von der Harvard University, sondern „einer der letzten mittelalterlichen Menschen“. Die Freiheit, die Luther meinte, sei immer auf Gott bezogen gewesen und nicht vergleichbar mit der säkularen Freiheit der heutigen westlichen Gesellschaften. Auch Theologen warnen davor, Luthers Fremdheit so weit abzuschleifen, dass er nirgendwo mehr anecke. Lustvoll zertrümmern Historiker und Kulturwissenschaftler zudem beliebte Mythen. Vermutlich hat Luther seine Thesen gar nicht selbst an die Kirchentür in Wittenberg geschlagen, und ein Hammer wurde auch nicht benutzt, sondern Siegellack. Erst im 19. Jahrhundert wurde Luther mit einem Hammer in der Hand dargestellt, im Zuge seiner Stilisierung zum Nationalheld.
 
Die Warnungen davor, Luther noch einmal auf einen Sockel zu heben, sind berechtigt. Der mittelalterliche Mönch ist kein Zeitgenosse von heute. Doch würde man alle Bedenken berücksichtigen, bliebe nur Stoff für einen großen Historikerkongress oder eine Theologentagung. Das wäre zu wenig für ein Ereignis, das Europa tatsächlich von Grund auf verändert hat.
 
Will man historische Ereignisse im 21. Jahrhundert massenwirksam vermitteln, geht es nicht ohne Verallgemeinerungen und ein bisschen Heldenverehrung. Auch Debatten im Vorfeld gehören dazu. Sie sind keine lästigen Störmanöver, wie mancher Kirchenvertreter meint, sondern die angemessene Art und Weise, wie sich eine moderne Demokratie mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Luther jedenfalls hätte es gefallen, dass man sich auch 500 Jahre später leidenschaftlich über ihn streitet.