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Die Verschwindende Wand in Belfast
Eine dritte Stimme verschafft sich Gehör

Ein Zitat auswählen und gleichzeitig die Wand zum Verschwinden bringen.
© Goethe Institut, Gareth Greenfield

Thomas Wells stammt ursprünglich aus Manchester und lebt seit dreieinhalb Jahren in Belfast. In den vergangenen 10 Jahren hat xier vor allem als Künstler*in gearbeitet und in den letzten zwei Jahren die Leitung von Catalyst Arts übernommen, die Ende März 2021 ausläuft. In dieser Funktion war xier auch für das Projekt „Die Verschwindende Wand“ zuständig.

Von Amelie Sittenauer

Ihre Organisation Catalyst Arts hat das überaus ambitionierte Projekt „Die Verschwindende Wand“ ins Leben gerufen und Workshops veranstaltet. Könnten Sie erläutern, was Catalyst Arts ist, woran dort gearbeitet wird und wer zum Team gehört?

Wells: Wir wurden 1993 in Belfast von einer Gruppe von Künstler*innen gegründet, die hauptsächlich aus Studierenden bestand. Sie hatten den Eindruck, dass es zur damaligen Zeit in Belfast keine wirkliche Plattform für bildende und darstellende Künste gab. Also riefen sie Catalyst ins Leben, wohl auch, um ein wenig mit der Idee einer Plattform für neue Formen des künstlerischen Schaffens in der Stadt zu experimentieren. Die Kunstszene in Belfast verfügt traditionell über enge Kontakte mit Einrichtungen aus ganz Europa. Damals, Ende 1993, im Jahr vor dem Karfreitagsabkommen, wollte man nach vorn, über die Grenzen Nordirlands hinausschauen und die Troubles, also den Konflikt in diesem Teil der Welt, hinter sich lassen. Man wollte engere Verbindungen mit Künstler*innen aus aller Welt eingehen. In den Statuten aus dem Jahr 1993 wurde daher festgelegt, dass wir uns als Künstler*innen selbst organisieren, ehrenamtlich tätig sind und auf hierarchische Strukturen verzichten – woran wir nach wie vor arbeiten. Dies ist meines Erachtens ein ganz wesentlicher Punkt. Wir haben keine Managementstrukturen, die Menschen werden bei uns also nicht von einer Führungskraft angeleitet. Wir arbeiten gemeinschaftlich miteinander. Die Leitung wird jeweils für zwei Jahre vergeben. Außerdem gibt es ein Rotationsverfahren für neue und scheidende Direktor*innen. Das heißt, dass wir uns auf der operativen Ebene ständig erneuern. Bei unserer Arbeit stand stets die Förderung neuer, innovativer Strömungen im Bereich der bildenden und darstellenden Künste in Nordirland im Mittelpunkt. Dies wird auch in Zukunft so sein.

Belfast hat eine bewegte politische Geschichte. Welche Bedeutung hatte das Projekt „Die Verschwindende Wand“ für die Stadt? Welche Herausforderungen und Möglichkeiten waren mit dem Projekt verbunden?

Wells: Uns hat die Idee einer Mauer von Anfang an fasziniert. In vielen europäischen Ländern ist das Konzept von Mauern und physischen Barrieren zwischen Gemeinschaften untrennbar mit der Geschichte verbunden. Und auch die Geschichte von Belfast und Nordirland wurde stark davon geprägt. Als uns das Projekt zum ersten Mal vorgestellt wurde, hatten wir daher gewisse Bedenken, was die Idee einer Mauer oder Grenze im weiteren Sinne für Nordirland bedeutend könnte. Offenbar haben sich mit der Zeit psychologische Barrieren zwischen dem unionistischen und dem nationalistischen Lager im Land aufgebaut. Doch es gibt in der Stadt auch immer noch echte physische Barrieren und physische Mauern. Während des Nordirlandkonflikts wurden physische Mauern durch die Stadt gezogen, um die beiden Gemeinschaften während des damaligen Bürgerkriegs voneinander zu trennen, aber auch voreinander zu schützen. Bei unseren Überlegungen zu diesem Projekt war uns sehr wohl bewusst, dass wir mit dem Vorschlag „eine neue Mauer zu bauen“ viele der Traumata, von denen die Region nach wie vor geprägt ist, wieder aufbrechen würden. Gleichzeitig verfügte dieses Projekt über eine besondere Poesie, weil die eingravierten Zitate auf den Holzblöcken für verschiedene Stimmen aus der internationalen Gemeinschaft in ganz Europa stehen. Außerdem sollte die Mauer später wieder abgebaut werden. Und aus meiner Sicht hatte sogar dieser symbolische Akt des kollektiven Errichtens und anschließenden Einreißens einer Mauer durch Sprache und durch Gespräche etwas unglaublich Poetisches.

Eine ihrer Ideen für die Workshops im Rahmen des Projekts „Die Verschwindende Wand“ in Belfast bestand darin, eine alternative Kartierung der Stadt unabhängig von geografischen Anhaltspunkten zu erstellen. Warum war eine solche Neukartierung ihrer Meinung nach besonders wichtig für Belfast?
Künstler und Kurator Thomas Wells Künstler und Kurator Thomas Wells | © privat
Wells: Grenzen sind nicht nur geografische Kategorien. Meines Erachtens sind sie ein wichtiger Teil des Kulturerbes, der Geschichte und der Psychologie der Menschen in einer Region. Vor allem Belfast und auch Nordirland sind auf gewisse Weise in diese binären Stimmen unterteilt. Allerdings wird auch eine dritte Stimme mit der Zeit immer lauter, die das binäre Konzept von Unionismus und Nationalismus, von Protestantismus und Katholizismus usw. in Frage stellt. Außerdem war esfür die Einbindung der Öffentlichkeitbesonders wichtig, dass wir auf diese binären Positionen Bezug genommen haben. Gleichzeitig haben wir aber auch einen Raum innerhalb von Catalyst als innerstädtischer Kunsteinrichtung und einen neutralen Standort geschaffen, um diesen Stimmen ein Zuhause zu geben. Und deshalb kämpfen wir auch für unser Recht, als Kunstraum im Stadtzentrum bestehen zu bleiben. Denn sobald wir uns nach Norden, Osten, Süden oder Westen begeben, können wir schnell in die Psychologie eines der dortigen Viertel eintauchen. Es war daher sehr wichtig, die geografischen Kategorien zu überwinden und unsere Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Verbindungen zu richten, die sich durch die Stadt zu ziehen. Eine Möglichkeit, auf die wir uns dabei konzentriert haben, war das Storytelling. Außerdem haben wir den Blick auf Gemeinsamkeiten gerichtet, die uns auf gewisse Weise miteinander verbinden, uns einander näher und weg von binären politischen Positionen bringen.

Sie haben Workshops wie Tales of Embodimentoder eine queere Lesung über historische Orte in Belfast veranstaltet. Wie haben Sie die Künstler*innen ausgewählt, wie ist das Workshop-Konzept entstanden?

Wells: Die Kunstszene in Belfast ist unglaublich gut vernetzt. Es war daher schön, dass wir mit einigen Künstler*innen nicht zum ersten Mal zusammenarbeiteten. Innerhalb unserer städtischen Kunstwelt besteht die Tendenz, immer für dasselbe Publikum zu arbeiten, also für Kunstschaffende, im künstlerischen Bereich tätige Menschen oder Studierende. Und für mich ging es bei diesem Projekt – ganz einfach, weil es geografisch, aber auch psychologisch eine größere Reichweite hatte – vor allem darum, mit einem kunstfernen Publikum zu arbeiten. Als wir uns die ersten Entwürfe für die Workshops anschauten, war uns klar, dass wir dafür Kunstschaffende gewinnen wollten, die bereits Erfahrungen mit der Einbindung und Zusammenarbeit mit einzelnen Personen oder Gruppen hatten. Die aber auch, und da wären wir wieder bei der Idee einer Überwindung der geografischen Kategorien, historische Ereignisse in den Mittelpunkt stellen wollten, die nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten oder nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind. Daraus entwickelten wir unsere Arbeitsthemen. Wir wollten uns mit Frauen in Nord-Belfast, queeren Geschichtsentwürfen, Vorstellungen von Behinderungen und Konzepten von Sprache und gesprochener Sprache auseinandersetzen.

Die Projektplanung begann 2019. Damals ahnte noch niemand etwas von einer Corona-Pandemie, die das Projekt vor zahlreiche Herausforderungen stellen würde. Schließlich mussten Sie sogar den Standort der „Verschwindenden Wand“ von einem Dach auf die Ablaufbahn der Titanic verlegen. Wie hat sich diese räumliche Veränderung auf das Projekt als Ganzes ausgewirkt?

Wells: Dadurch hat sich vieles geändert. Meines Erachtens war der durch Corona bedingte Standortwechsel möglicherweise das Beste, was uns mit Blick auf die Projektentwicklung passieren konnte. Die Verlegung nach unten, auf die Titanic Slipways, und die damit verbundene Möglichkeit, dort mit den Menschen über Sprache und Zitate und Kultur zu diskutieren, war eine großartige Entwicklung. Trotz der unkalkulierbaren Situation war das Schicksal meines Erachtens also auf unserer Seite und schenkte uns diesen wunderbaren Ort als Ausweichmöglichkeit. Ich habe bereits gesagt, dass Catalyst ein neutraler Raum sein sollte. Für mich ist der neue Mauerstandort ein weiterer dieser alternativen Orte in Belfast, die eine ähnliche Art von Neutralität vermitteln.

Das Projekt „Die Verschwindende Wand“ wurde an mehreren Orten in der Region, aber auch in ganz Europa adaptiert. Vor kurzem sind Großbritannien und damit auch Nordirland aus der EU ausgetreten. Wie können Ihrer Meinung nach Projekte wie die „Verschwindende Wand“ künftig dazu beitragen, ein neues Verständnis von uns selbst als europäische Nachbar*innen, Partner*innen oder Freund*innen zu schaffen?

Wells: Ich denke, dass lässt sich im größeren Rahmen nur schwer ermessen. Und ich weiß nicht, ob ich darauf wirklich eine Antwort habe. Für uns als Organisation, für Catalyst, hat sich damit unser Standpunkt nur noch weiter gefestigt, dass wir unbedingt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene tätig sein müssen. Wir müssen verstehen, dass Kunst und Kultur, ganz gleich was die Zukunft bringen mag, im Sein und im Schaffen Barrieren und Grenzen überwinden müssen.

Was haben Sie rückblickend gelernt? Was nehmen Sie mit in künftige Projekte? Und wie hat sich möglicherweise ihr Blick auf Belfast verändert?

Wells: Für mich und Leah, die das Projekt in der Anfangszeit leitete, war mit dem Projekt eine wichtige Lernerfahrung in Bezug auf die Begrenzungen von Catalyst Arts verbunden. Dies war einer der Gründe, warum wir schon nach kurzer Zeit unseren Partner Urban Scale Interventions (USI) zur Unterstützung mit ins Boot holten. Und ich bin sehr froh, dass wir es gemacht haben. Denn diesen Teil des Projekts, den Aufbau und alles, was damit zusammenhängt, hätten wir nur schwer bewältigen können. Es ist also wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen. Und aus operationeller Sicht ist es definitiv ebenfalls wichtig zu lernen, wie unterschiedliche Systeme und Strukturen funktionieren. Das alles gehört dazu. Mich persönlich hat die Resonanz vollkommen überwältigt. Ich denke nicht, dass irgendjemand von uns auf derart positive und spontane Reaktionen am Slipway vorbereitet war. Oder darauf, welch grundlegende Bedeutung solche Werke für die Öffentlichkeit haben. Als Kunstschaffende und Kreative und Programmplanende neigen wir dazu, uns in Konzepten und Theorien und Lehrmeinungen zu verlieren. Dies hat ohne Zweifel seine Berechtigung. Doch wenn es darum geht, die Öffentlichkeitzu integrieren, wenn es um die Funktion und die Rolle einer solchen Einbindung geht, sind die „einfachen“ häufig die brillanten Lösungen. Und damit möchte ich das Projekt keinesfalls abwerten. Ich bin lediglich der Meinung, dass einfache Ideen, die bei Menschen im richtigen Moment einen Nerv treffen, etwas Wunderbares sind. Das habe ich als absoluten Triumph empfunden.

Haben Sie auch einen Block mit einem Zitat zu Hause? Und wenn ja, was steht darauf?

Wells: Ja, allerdings kann ich mich nicht mehr an das Zitat erinnern. Auf jeden Fall ist es das von Virginia Woolf. Doch es gibt noch eine andere wunderbare Geschichte. Meine Kollegin Leah stammt aus Tipperary, einer Grafschaft in Südirland. Ihr Vater, der in Tipperary lebt, meldete sich während des Mauerbaus jeden Tag bei uns. Er machte sich große Sorgen um ihre Stabilität, weil es in dieser Woche besonders windig war. Und er war sehr enttäuscht, dass er nicht selbst kommen und sich die Mauer anschauen konnte, weil er die Idee so großartig fand. Zu Weihnachten schnappten wir uns bei Catalyst einen der Blöcke, den wir unterschrieben und als Geschenk verpackten. Leah nahm den Block mit nach Hause und schenkte ihn ihrem Vater zu Weihnachten. Es war so schön zu sehen, dass Menschen sogar auf virtueller Ebene Anteil nehmen und an dem Projekt teilhaben wollten. Das war großartig.








 

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