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Moderne Entfremdung von der Natur
Schaffung neuer Formen des Daseins in der Welt

Feldstudien von Andrea Nightingale im westlichen Nepal
Feldstudien von Andrea Nightingale im westlichen Nepal | Foto (Ausschnitt): © Andrea Nightingale

Die Bemühungen, auf den Klimawandel zu reagieren, werden durch unsere gegenwärtige Entfremdung von der Natur erschwert. Da wir von einer sich verändernden Umwelt betroffen sind und erkennen, dass die Bemühungen zur Vorhersage und Bewältigung des Wandels immer mit gefährlichen und ungewissen Dynamiken verbunden sind, müssen wir gelebte, emotionale und affektive Wissensformen mit der aktuellen Klimawissenschaft ins Gespräch bringen. Um wirksam zu sein, müssen Transformationen im Angesicht des Klimawandels auf diesen affektiven Beziehungen aufbauen und sie mobilisieren.

Von Andrea J. Nightingale und Noémi Gonda

Transformation ist ein Begriff, der von Klimawissenschaftler*innen häufig verwendet wird, um die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels zu betonen, der über die Anpassung hinausgeht, der aber den radikalen Unterton von „Revolution“ vermeidet. Das Konzept der Anpassung wird jedoch durch das darwinistische Erbe gestützt. Ein zu hoher Wert wird dabei auf die Auswirkungen und Verhaltensweisen von Menschen gelegt, die sich über Infrastrukturen, Institutionen und individuelle Werte übertragen, ohne angemessen zu berücksichtigen, dass diese immer auch durch Macht und Politik vorangetrieben werden. Infolgedessen hat die Transformation ihre Radikalität verloren und unterstützt häufig Bemühungen, die Klimaprobleme durch Geo-Engineering oder neue Governance-Mechanismen zu lösen, die in Wirklichkeit nur den Status quo reproduzieren.

Stattdessen muss das Klimaproblem selbst neu gedacht werden, indem es nicht nur als Veränderung in der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre erkannt wird –gleichwohl diese wichtig ist –, sondern auch als ein Problem der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Politik und der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur. Die Formen unseres Seins in der Welt, unsere Handlungen, Vorstellungen und Ideen prägen unser Kräftespiel mit der Natur, und genau dieses Kräftespiel liegt dem Klimaproblem zugrunde.

Die Logik der Aufklärung, welche die Vernunft vom Gefühl trennt, macht es schwierig, emotionale Formen des Wissens von Veränderung in die Wissenschaft einzubringen. Unannehmlichkeiten, unerwartete und ungewisse Affekte und Emotionen werden daher von Vorhersagen und Vorstellungen über die Zukunft ausgeblendet. Wir sehen dies als eine anhaltende Krise der hegemonialen Wissensproduktion. Indigene Gruppen auf der ganzen Welt haben Alternativen zu diesen vorherrschenden Formen des Daseins in der Welt entwickelt. Die Umweltkrise in Verbindung mit Black Lives Matter und verwandten Bewegungen gegen Rassismus haben ihren Stimmen mehr Gewicht verliehen. Diese Daseinsformen bieten Alternativen zur modernen Entfremdung von der Natur und geben uns Werkzeuge an die Hand, um über Verwandtschaft und emotionale Bindungen mit der Welt nachzudenken. Wir müssen die vor sich gehenden Veränderungen nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch mit unserem Körper und unseren Gefühlen wahrnehmen.

Die Notwendigkeit der „affektive Anpassung“

Der Wandel selbst ist gefährlich und ungewiss. Das Gleiche gilt für die langfristigen Auswirkungen der Bemühungen, den Wandel zu bewältigen und zu verhindern. Anhand von Klimamodellen wird aufgezeigt, dass der Wandel tatsächlich im Kommen begriffen ist. Diese Modelle sind jedoch nach wie vor völlig unzureichend, um genau vorherzusagen, wie sich der Wandel vollziehen wird. Wir lehnen die Modelle nicht ab, aber wir sind besorgt über die verzerrten Wissensformen, die den derzeitigen Bemühungen zugrunde liegen. Stattdessen plädieren wir für kreative, anschauliche und gelebte Auffassungen in Kombination mit Wissenschaft, um die Transformation zu unterstützen.

Wir haben den Begriff „affektive Anpassung“ geprägt, um Reaktionen auf den Klimawandel zu beschreiben, die zu gerechten und ausgewogenen Prozessen führen. Neue Möglichkeiten und Beziehungen entstehen, wenn der Schwerpunkt auf die Affekte von Anpassung und Zukunftsbewältigung gelegt wird, nicht nur auf ihre Effekte. Sie vermittelt den Menschen und den Wissenschaftler*innen ein anderes Verständnis ihrer Beziehung zur Gemeinschaft und zur Welt um sie herum. Zwar verstehen wir Anpassung als normatives Ergebnis, sie ist jedoch kein gewünschter Zustand, sondern eher als Beziehungen und Prozesse zu verstehen, die Veränderungen ermöglichen können. Emotionen und Affekt durchdringen die Beziehungen, die den gegenwärtigen Zustand stärken - indem sie unsere Wahrnehmung der Alternativen beziehungsweise der Alternativen, deren Autorität wir anerkennen, einschränken-, oder sich dagegen stellen; manchmal beides gleichzeitig. Wir sind der Ansicht, dass das Affektive und das Eingehen auf die damit einhergehenden dynamischen und unvorhersehbaren Beziehungen Raum für Dialog und Veränderung schaffen.

Das Versagen der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur

Wenn die Gefährlichkeit und Unsicherheit der Zukunftsvorhersage in den Mittelpunkt gestellt werden, wird sichtbar, dass nicht nur die Welt, sondern auch unsere Methoden der Wissensproduktion in der Krise sind. Die COVID-19-Pandemie veranlasst uns ebenfalls, uns mit unserer derzeitigen Weltordnung auseinanderzusetzen. Dabei wurde nicht nur das Fiasko bei der Verhinderung der Ausbreitung des Virus deutlich, sondern auch ein tieferes, grundlegendes Versagen in den Beziehungen der Gesellschaft zur Natur, mittels derer wir Lebensmittel produzieren. Die Pandemie fordert uns auf, die Systeme zu überdenken, die unser tägliches Überleben sichern, und unterstreicht gleichzeitig die Notwendigkeit, uns von der Wissenspolitik zu emanzipieren, die diese systemischen Herausforderungen sowohl geschaffen hat als auch unbewältigt lässt.

Die Pandemie hat somit aufgezeigt, was wir als die Krise der hegemonialen Wissenspolitik verstehen: die Ausblendung von Raum für affektive, entkolonialisierte, feministische und indigene Lehren und Formen des Daseins in der Welt. In diesem Moment bietet sich jedoch auch die Möglichkeit, die von Gesellschaft und Natur bedingten Prozesse radikal zu hinterfragen, die dazu beitragen, dass andere bei den gemeinsamen Kämpfen ungleich betroffen sind. Hier liegen die Möglichkeiten für eine emanzipatorische Wissenspolitik und einen transformativen Wandel.

Unsere Überzeugung von der Bedeutung der Beratung, des Dialogs und der Schaffung eines politischen Raums für vielfältige Möglichkeiten des Seins geht aus unserer Forschung hervor. Die Länder, in denen wir tätig sind, kämpfen mit einer autoritären Politik, die die Demokratie untergräbt, während die natürlichen Ressourcen in rasantem Tempo aufgebraucht werden. Wenn Menschen, die Zeugen eines solchen Raubbaus sind und eine generationen- und artenübergreifende Vision von Nachhaltigkeit haben, ihre Zukunftsvisionen zum Ausdruck bringen können, könnte dieser Raubbau eingedämmt werden. Der Raum für demokratische Debatten muss offen bleiben, aber westliche „Demokratien“, die Nachhaltigkeit durch Extraktivismus in ärmeren Regionen der Welt erreichen, sollten dabei nicht das unbedingte Vorbild sein. Ein Umdenken in Bezug auf unsere Art und Weise, Demokratie und Nachhaltigkeit zu praktizieren, muss Teil unserer Vision für eine transformative Zukunft sein.

Zukunftsperspektiven der COP26 in Glasgow

Die COP26 in Glasgow bringt Wissenschaftler*innen und politische Entscheidungsträger*innen aus der ganzen Welt zusammen, um über unseren künftigen Kurs zu diskutieren. Bei den Treffen wird der Raum für alternative Stimmen und affektive Wissensformen buchstäblich an den Rand gedrängt. Die Nebenveranstaltungen sind der Ort, an dem die Debatten darüber im Mittelpunkt stehen, wer befugt sein sollte, den Wandel zu steuern, wie die Zukunft aussehen soll und wessen Prioritäten am wichtigsten sind. Diese Stimmen brauchen mehr politischen Raum bei den Hauptverhandlungen. Politische Entscheidungsträger*innen müssen mehr Möglichkeiten haben, sich mit den affektiven, emotionalen und erfahrungsbezogenen Daseinsformen zu verbinden, die mögliche Zukunftsszenarien mit sich bringen. Durch eine Entkolonialisierung der COP würden das Wissen weltweiter indigener Bevölkerungen und die Umwelt-, Geistes- und Sozialwissenschaften als gleichwertiger Faktor in die Vorhersagen des Klimawandels einfließen.

Die derzeitigen Vorstellungen von Nachhaltigkeit umfassen drei Säulen: die soziale, die ökonomische und die ökologische Säule. In einem solchen Rahmen fehlen jedoch die Überschneidungen zwischen Demokratie und Nachhaltigkeit. Um im 21. Jahrhundert echte Nachhaltigkeit zu erreichen, sind ausgewogene Debatten über gültige Erkenntnisse - keine alternativen Fakten - und die Visionen von Menschen, die außerhalb der hegemonialen Machtzirkel stehen, dringend erforderlich. Wir stellen uns eine Zukunft vor, in der der Prozess ebenso wichtig ist wie das Ergebnis und in der neue Formen des Daseins in der Welt uns wieder mit der Natur und miteinander verbinden, so dass Armut und Raubbau an den Ressourcen nicht länger als Teil des Status quo akzeptiert werden.

 

Literatur

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