Interview
Dis Fig aka Felicia Chen
Die aus New Jersey stammende Dis Fig alias Felicia Chen erforscht in ihrer künstlerischen Praxis kinematische klangliche Ausdrucksformen. Als DJ ist sie für ihre Neugier und rastlose Energie berüchtigt, aber als Live-Performerin entfernt sie sich komplett vom Club und nutzt ihre akrobatische Stimme und ihren ganzen Körper, um eine emotionale Komplexität zu vermitteln, die tiefer ist als die Sprache. Seit der Veröffentlichung ihres Debütalbums Purge vor fünf Jahren arbeitet sie hauptsächlich an gemeinsamen Projekten.
Ab Februar 2024 wird sie an einem dreimonatigen Residenzprogramm zwischen dem Goethe-Institut und den Somerset House Studios (SHS) teilnehmen. Bevor sie nach Berlin zurückkehrt, will sie in die Welt der Improvisation eintauchen, um neue Prozesse in ihrer Produktion und Performance zu entwickeln. Am Ende des Aufenthalts wird sie mit der Arbeit an einem neuen Solostück beginnen, das 2025 beim CTM Festival Berlin aufgeführt werden soll.
Wir sprachen mit Dis Fig, um mehr über die Vision ihres neuen Solowerks, kommende Live-Performances und die anderen kreativen Projekte zu erfahren, an denen sie beteiligt ist.
Von Lucy Rowan
Wie hat das Aufwachsen in den 90er Jahren in New Jersey deinen Sound und Geschmack geprägt?
Ich war schon immer von Musik besessen. Ein Großteil meiner Kindheit bestand darin, in die Fußstapfen meiner acht Jahre älteren Schwester zu treten - sie hörte leidenschaftlich gern Musik. Ich weiß noch, wie ich mit vier Jahren MTV geschaut und ihre Kassetten oder CDs gestohlen habe. Das typische Leben eines Kindes in den Neunzigern, das Mixtapes für sich und seine Freunde macht. In der Schule war ich auch ein großer Chor-Nerd *sie lacht*. Da wir ganz in der Nähe von New York wohnen, hörte ich viel von dem, was diese Sender spielten - New Yorker und Ostküsten-Hip-Hop.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich in meinem Leben mit Musik beschäftigen würde. Als Teenager war, wollte ich vor allem singen, dann kam ich in die Clubszene und die elektronische Welt. Eines Tages wurde mir klar: "Warte, ich kann das selbst machen!" Musik war also schon immer in meinem Leben präsent und wahrscheinlich die erste Sache von der ich besessen war.
Als ich 2010 nach New York zog, war das ein sehr großer Moment für Bassmusik und Dubstep, die sich stark an Großbritannien orientierten. Manchmal war ich drei- bis viermal pro Woche unterwegs, weil es zu dieser Zeit einfach eine Fülle von Live-Musik und Club-Musik gab - Warehouse- und Underground-Partys. So habe ich Künstler wie Digital Mystikz entdeckt, weil viele britische Künstler gebucht wurden. Es war eine Art seltsame Besessenheit mit britischer Musik in New York zu dieser Zeit, aber ich war voll dabei!
Deine Gesangsarbeit hat viel emotionale Tiefe und Verletzlichkeit, die mit dieser punkigen Energie konfrontiert wird. Warum ist es für dich wichtig, diese Synergie in deine Live-Auftritten und einzubringen?
Ich habe das Gefühl, dass Punkmusik sehr emotional ist. Beides scheint ein wesentlicher Teil von mir zu sein, also ist es nicht einmal eine bewusste Sache, es passiert einfach ganz natürlich. Es ist die Richtung, in die mein Körper und meine Gefühle tendieren, wenn ich etwas kreiere oder auftrete. Ehrlichkeit ist ein zentraler Bestandteil meiner Persönlichkeit in allen Bereichen meines Lebens. Ich bin und war schon immer unglaublich schlecht im Lügen *sie lacht*, ich mag es nicht, einen Schleier vor mir zu haben oder verschiedene Rollen spielen zu müssen. Die Unverfälschtheit ist es, die mich begeistert.
Es gibt definitiv eine rebellische Seite und diese Art von wildem Affen, der herumrennen und schreien will. Dann gibt es diese verletzliche und traurige Seite, die wirklich schön ist. Ich denke, es geht darum, all diese verschiedenen Seiten von mir zum Vorschein zu bringen. Ich mag es, all die unbeständigen Dinge, die in mir vorgehen, durch meine Musik ausdrücken.
Das war eine Herausforderung, denn obwohl sie mit Elektronik arbeiten, spielen sie hauptsächlich ein richtiges Schlagzeug und eine Drop-Tune-Gitarre. Einer von ihnen schreit auch. Es war cool, mit echten Instrumentenstämmen zu arbeiten und ein Gleichgewicht zwischen meinem Gesang/Schreien und dem einer anderen Person zu finden. Das war sehr spaßig.
Wir werden mit dem Album für den Rest des Jahres in den USA und Europa auf Tour gehen, und ich hoffe, es auch nach Asien zu bringen. Ich habe schon einige Ideen dazu gesammelt, mal sehen, was daraus wird. Ich habe noch nie eine Tournee gemacht. Wenn ich mir die voraussichtlichen Termine allein in den USA ansehe, dann denke ich: "Wow, das ist eine Menge Fahrt von der Ost- zur Westküste und dann wieder zurück in einem kleinen Sprinter-Van!" Ich habe noch nie einen solchen Roadtrip gemacht und freue mich sehr auf diese Gelegenheit.
Wenn du als weibliche Künstlerin über deine Erfahrung der Musikindustrie und Clubszene nachdenkst - welche Änderungen würdest du gerne sehen, um es zu verbesseren?
Diese Frage ist für mich schwer zu beantworten, weil ich mit meiner Zeit in der Musikwelt sehr gesegnet war. Ich hatte nie das Gefühl, dass es ein Boys Club oder so etwas ist. Ich denke, das hat mit dem nährenden Umfeld und der Gemeinschaft zu tun, von der ich in Berlin und New York ein Teil sein durfte. Aber es gibt auf jeden Fall Arbeit, die außerhalb meiner Blase getan werden muss, und das ist nicht für alle gleich, vor allem, wenn es immer noch Orte gibt, an denen es verboten ist, eine Künstlerin mit weiblicher Identität zu sein. Ich finde es erstaunlich, dass man sich bewusst und sorgfältig darum bemüht, Künstlerinnen eine Plattform zu geben und Raum für Lernen und Austausch zu schaffen, um mehr Interesse und Ermutigung zu fördern. Damit wird nicht nur für die heutige, sondern auch für die künftige Generation etwas bewegt.
Ich glaube aber auch, dass uns diese Segregation manchmal etwas zurückhält. Ich habe das in letzter Zeit ein wenig zu spüren bekommen, als ich mich in die Metal-Welt vertieft habe, die viel stärker von Männern dominiert ist, als ich es gewohnt bin. Als die Journalisten das vor ein paar Wochen erschienene Album, an dem ich mitgearbeitet habe, rezensierten, hatte ich das Gefühl, dass über mich in einem anderen Ton geschrieben wurde. Es musste nicht ständig erwähnt werden, dass ich eine Frau bin, ich bin einfach eine Künstlerin. Das fühlt sich unnötig an. Hoffentlich wird der Tag kommen, an dem es nicht mehr nötig ist, die Kunst und die Arbeit von jemandem zu trennen, nur weil er eine Frau ist.
Du bist an einigen kreativen Projekten/Kollektiven beteiligt, die über die reine musikalische Zusammenarbeit mit anderen Künstlern hinausgehen - kannst du uns mehr darüber erzählen?
Es ist lustig, dass man gar nicht merkt, wo man überall involviert ist, bis man danach gefragt wird, aber ja, ich schätze, ich mag Vielseitigkeit *sie lacht*. Es gibt eine Performance, die ich mit dem Künstler Tianzhuo Chen mache. Er veranstaltet diese Trance-Performance mit etwa 13 Performern, die Hälfte von uns sind Musiker und die andere Hälfte sind Körperperformer/Tänzer. Es ist eine 12-stündige Performance, die wir drei Tage lang hintereinander aufführen. Es ist eine kathartische rituelle Zeremonie, die einer Struktur aus sechs Kapiteln folgt und an tibetisch-buddhistische Ritualen angelehnt ist, mit einigen Anklängen an balinesische Rituale, aber sozusagen unsere Interpretation davon. Es wird ein bisschen verrückt und es wird viel improvisiert. Viele Leute verbringen an allen drei Tagen die vollen 12 Stunden mit uns. So wird es zu einer ganz besonderen, emotionalen Erfahrung, bei der wir uns alle, wenn auch nicht körperlich, so doch geistig, gegenseitig umarmen. Es ist eine wirklich schöne gemeinsame Erfahrung. Es ist fantastisch und jeder sollte es sich ansehen!
Dann ist da noch Purple Tape Pedigree (PTP), ein Kollektiv, dem ich angehöre und das in New York ansässig ist. Das ist so etwas wie meine Crew-Familie. Sie haben ein Plattenlabel, das mein erstes Album "Purge" herausgebracht hat, und ich werde mein nächstes Album mit ihnen veröffentlichen, wenn es herauskommt. Sie sind eine großartige Gruppe von Leuten, mit denen ich mich wirklich auf einer Ebene verbunden fühle, bei denen ich weiß, dass wir alle die gleichen Absichten haben. Es geht nicht nur darum, dass wir die Musik des anderen mögen oder dass es von Vorteil ist, bei diesem Plattenlabel zu sein. Wir haben alle die gleiche Absicht und bemühen uns darum, dass eine Intension durch unserer Musik und unsere Auftritte zum Ausdruck kommt. Diese Absicht besteht darin, sich um unsere Gemeinschaft und umeinander zu kümmern, gegen das Böse in der Welt zu kämpfen - sich zu wehren und für diejenigen einzutreten, die in Not sind.
Im Moment versuche ich, neue Prozesse des Produzierens und Musizierens zu entwickeln, indem ich mir neue Instrumente und Maschinen herannehme. Ich konzentriere mich auch ein bisschen mehr auf die Improvisation. Ich habe zum Beispiel schon früher gesampelt, aber jetzt versuche ich, neue Wege auszuprobieren. Für diesen Auftritt werde ich mit einem guten Freund von mir zusammenarbeiten, der ein unglaublicher Schlagzeuger ist. Wir werden zusammen improvisieren und versuchen, beide Welten zu vereinen. Es ist also sogar für mich noch immer ein kleines Mysterium, was passieren wird, aber ich denke, es wird etwas ganz Besonderes.
Wie erhoffst du dir, dass deine Zeit in London deine kreative Praxis im Vergleich zu Berlin beeinflussen wird?
Ich lebe seit 10 Jahren in Berlin. Obwohl sich die Stadt in dieser Zeit sehr verändert hat, vor allem in den letzten Jahren, habe ich das Gefühl, dass ich mich in der Stadt auskenne. Ich habe dort meine Community, die ständig wächst und sich verändert. Ich lerne ständig neue Leute kennen, aber gleichzeitig freue ich mich, hier zu sein. Der Hauptgrund ist, dass es eine wirklich große Stadt ist, was ich an New York vermisse. Ich liebe das schnelle Tempo einer Großstadt und die Vielfalt, die in Berlin nicht so präsent ist.
London ist kulturell sehr reichhaltig, von Essen über Musik bis hin zu sozialen Subkulturen ist alles vorhanden. Es gibt so viel Geschichte in diesen Subkulturen. Ich freue mich darauf, in alle einzutauchen, denn ich habe sehr viele verschiedene Interessen. Allein wenn ich an die Shows denke, die ich nächste Woche besuchen werde, gibt es so viele, und alle gehören zu den verschiedenen Bereichen. Ich kann es kaum erwarten, das alles in mich aufzusaugen.
Im Jahr 2025 wirst du Teil des CTM-Festivals in Berlin sein – hast du bereits Ideen, was du dafür kuratieren wirst?
Meine Absicht für diese Residency ist es, an neuen Soloarbeiten zu arbeiten, was ich schon sehr lange nicht mehr getan habe. Am 15. März ist das fünfjährige Jubiläum meines Debütalbums Purge, und um das zu zelebrieren werden wir die Platte auf Vinyl neu auflegen. Es war toll, so lange mit diesem Album auf Tour zu sein, aber ich denke, es ist auch Zeit für mich, neue Musik zu schreiben. Ich bin jetzt bereit. Ich habe auch neue Dinge zu sagen und eine neue Botschaft. Ich habe in diesen Jahren eine Menge erlebt. Es gibt also eine Menge neuer Dinge zu berichten.
Nach diesem Aufenthalt werde ich hoffentlich ein neues Album haben, oder ich werde viel näher dran sein, ein neues Album zu schreiben. Ich denke also, dass ich das beim CTM präsentieren werde. Ich weiß noch nicht, wie es aussehen wird, aber es wird super - wir werden eine krasse Show machen!