Vladimir Arsenijević
Einfache, kleine Dinge

Von Vladimir Arsenijević


An diesem Morgen fand sie in der Küche ein großes schwarzes Insekt.

Es saß in der Spüle und streckte bedächtig die langen Fühler aus, wie ein weiser Mann. Angeekelt ließ sie das Wasser laufen. Sofort wurde das Tier vom Wasserstrahl erfasst. Es zappelte im Sog, der es zum Abfluss fortriss.

Sie wandte sich zum Kaffeekochen. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen die doppelte Menge zuzubereiten.

Erst als die Kaffeemaschine zu zischen begann, blickte sie wieder zur Spüle. Das große schwarze Insekt war immer noch da. Es kämpfte gegen das Wasser. Die Beinchen wurden schon kraftloser, die Flügelspitzen waren bereits zerfetzt, an mehreren Stellen des Leibs quoll bereits rohes, dunkelgelbes Fleisch hervor.

Sie spürte, wie es ihr hochkam. Sie drehte den Wasserhahn zu.

Das Insekt beruhigte sich. Eine Weile rührte es sich nicht von der Stelle. Dann begann es, die Spüle hinaufzuklettern. Schwer verwundet zog es die Hinterbeine nach und glitt hilflos immer wieder ab. Aber es gab nicht auf.

Vom Fensterbrett nahm sie einen leeren Blumentopf, an dessen Boden Reste trockener Erde hafteten. Sie stülpte ihn über das Insekt. Sie konnte hören, wie es sich langsam an seiner Innenwand emporschob. Sie stellte den Topf wieder auf das Fensterbrett und schloss das Fenster.

Sie setzte sich an den Küchentisch. Sie wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab. Sie schenkte sich Kaffee ein und nahm einen Schluck. Aber der Kaffee schmeckte nicht, sie würde heute auch die übliche Hälfte der doppelten Dosis ihres gewohnheitsmäßig zubereiteten Morgenkaffees nicht vertragen.

Der Autor Vladimir Arsenijević © Foto: Srdjan Veljovic © Goethe-Institut Vladimir Arsenijević Foto: Srdjan Veljovic © Goethe-Institut
Vierzig Tage waren seit dem Tod ihres Mannes vergangen. Obwohl der Priester der Kirche im Ort ein Gebet für sein Seelenheil sprechen wollte und ihr vorschlug, einen Gedenkgottesdienst für ihn zu halten, dachte sie nicht im Traum daran. Es reichte, dass er sich schon bei der Beerdigung aufgedrängt und gegen ihren Willen die Eilversion eines Gottesdienstes durchgezogen hatte. Immer, wenn er sich bekreuzigt und „Amen“ gesagt hatte, hatten sie und ihr Sohn stillgestanden, die Köpfe gebeugt. Nur die Altenpflegerin hatte es dem Priester nachgetan und sich bereitwillig bekreuzigt. Allerdings in falscher Reihenfolge. Sie hatte Tränen vergossen und war ihr damit auf die Nerven gegangen.

Auf Wunsch des Verstorbenen nahmen an der Beerdigung außer dem Pfarrer nur noch sie drei teil. Später verstreuten sie die Asche, an einer zuvor dafür bestimmten Stelle. Auch hier waren nur sie drei zugegen. Die Anwesenheit der Altenpflegerin war unangenehm, und ihr Sohn und sie bemühten sich gleichermaßen, die Frau zu ignorieren. Sie hatten sie noch nicht mal ausgesucht gehabt. Ein palliativer Pflegedienst hatte sie zu ihnen geschickt. Sie war vor dem Krieg geflüchtet, der vor etwa zwanzig Jahren in einem östlich gelegenen Land gewütet hatte. Zunächst ging sie davon aus, die Pflegerin sei Muslima, aber dann sah sie einmal, wie sie sich bekreuzigte. Jeden Morgen trank sie in der Küche eine Tasse Tee, bevor sie sich an die Arbeit machte. Das Krankenzimmer betrat sie, als wäre es ein Raumschiff. Oder ein finsterer Bergwerksstollen. Sie lauschte durch die Wand, wie die Pflegerin ihm vorlas. Tagaus, tagein. Nach all den Jahren, die sie jetzt hier war, war ihre Aussprache immer noch erbärmlich.

Sie dachten, das Ende würde schneller kommen, doch manchmal ziehen sich solche Dinge unvorhersehbar in die Länge. Und so blieb die Pflegerin fast ein Jahr bei ihnen. Unerklärlicherweise gelang es ihr nicht, sich in dieser Zeit ihren Namen einzuprägen. Es war sicher keine Absicht und auch keine Böswilligkeit, das wusste sie, aber sie konnte sich den Namen einfach nicht merken, es ging irgendwie nicht. Die Pflegerin war beleidigt, und ihr Verhältnis blieb reserviert.

Jedenfalls sahen sie sich nicht mehr, nachdem der ganze Trubel rund um den Tod, die Einäscherung und alle Begleitrituale vorbei waren. Die Pflegerin verschwand aus ihrem Gedächtnis, und es gab keinen konkreten Grund, just an diesem Morgen an sie zu denken. Und dennoch tat sie es. Das Gefühl, das Leben würde ihr irgendwelche Botschaften senden, schwelte in ihrem Inneren und loderte auf, als es inmitten ihrer Kaffee-Grübeleien völlig unerwartet an der Tür läutete. Als vor der Tür ausgerechnet sie, die Altenpflegerin, stand, erreichte dieses Gefühl seinen Höhepunkt. Sie hatte sich noch nie mehr gefreut, die Pflegerin zu sehen. „Wie schön, dass Sie mich besuchen“, sagte sie zu ihr. „Kommen Sie doch herein, bitte.“

Ganz vorsichtig betrat die Pflegerin die Wohnung. Die Tasche legte sie im Flur ab und wollte sich schon, wie früher, die Schuhe ausziehen.

Sie hielt sie davon ab. „Möchten Sie einen Kaffee trinken?“, fragte sie, während sie sie ins Wohnzimmer bat.

„Ja, warum nicht“, entgegnete die Pflegerin. Ihre Aussprache war immer noch erbärmlich. Vielleicht, dachte sie, könnte es trotzdem eine Zukunft geben, in der sie das nicht mehr stören würde.

„Kommt sofort, meine Liebe“, zwitscherte sie und reichte ihr die zweite Hälfte der gewohnheitsmäßig zubereiteten doppelten Menge Morgenkaffee.

Nachdem die Pflegerin gegangen war, zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Sie dachte an Kopfsalat und Erdbeeren, an zwei Scheiben Roggenbrot mit einer dünnen Schicht Butter obendrauf und an den herben Geschmack von Bergkäse, der am Gaumen haften blieb. Doch sobald sie einen Schritt in die Küche getan hatte, kam ihr das große schwarze Insekt in den Sinn. Sie öffnete das Fenster und blickte vorsichtig in den Blumentopf. Es war immer noch dort, am Topfboden, es saß auf dem Leichentuch aus trockener Erde. Seine langen Fühler hatte es wieder anmutig aufgestellt. Als es spürte, dass sich jemand über es beugte, erstarrte es.

Es rührte sie zutiefst. Fast hätte sie es streicheln wollen. Doch dann schreckte sie zusammen, wich zurück und bereitete mit wenigen Handgriffen die geplante Mahlzeit zu, stellte alles auf ein Holztablett und ging damit ins Wohnzimmer. 

Illustration Vladimir Arsenijević Lydia Salzer © Goethe-Institut

An diesem Nachmittag traf sie sich mit ihrem Sohn in ihrer Lieblingskonditorei. Der überraschende Besuch der Pflegerin hatte sie sehr beeindruckt, er aber schien ihre Schilderung zu ausschweifend zu finden. Sie sah ihm zu, wie er auf seinem Handy eine Nachricht tippte und dabei mechanisch nickte. Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Hand, in der er das Handy hielt, und sagte: „Hey!“ Er zuckte zusammen und blickte auf. Sein Gesicht war aufgedunsen. „Ich erzähle dir gerade von ihrem Mann. “ Und sie fuhr fort: „Er hat eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Endlich kann auch er aus dem Grauen dort raus und zu seiner Frau und den Kindern kommen.“

„Schön für sie, oder?“, erwiderte ihr Sohn teilnahmslos.

Sie seufzte. „Schon“, sagte sie. „Aber manchmal denke ich, es wäre das Beste, sie würden alle da bleiben, wo sie gerade sind.“

„Nur weil es dir da, wo du gerade bist, gut geht“, sagte er mit Abscheu in der Stimme, „heißt das doch nicht, dass andere nicht auch hier sein dürfen.“

Er war schon immer ein Klugscheißer gewesen. Wie sein Vater.

„Ich weiß nicht“, sagte sie. „Irgendwie müsste man es sich doch auswählen können.“

Ihr Sohn strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. „Wo wir schon dabei sind“, sagte er und beugte sich vor, „ich hätte da mal eine Frage an dich. Bereit? Also, pass auf. Was meinst du, wo verläuft die Ostgrenze Europas?“

Er schien provozieren zu wollen, wie ein Talkmaster.

Sie machte die Augen zu und stellte sich einen Grenzstein auf einem kahlen, windgepeitschten Berggipfel vor. Nur wo stand dieser Berg?

Sie wusste es nicht, aber er hatte es nicht eilig. Sie sollte sich ihre Antwort in Ruhe überlegen. Er nutzte die Pause, um ihr zu erzählen, dass der Moderator neulich genau diese Frage – Where does Europe end in the East? – einem Gast bei der Podiumsdiskussion im Kulturzentrum gestellt hatte. Er sah sie weiterhin durchdringend an. Das Funkeln in seinen Augen hatte etwas fast Manisches.

„Ich weiß es nicht", sagte sie. „Ich weiß es wirklich nicht. Was hat der Gast denn geantwortet?“

Wenn ihn nur jemand lieben würde, dachte sie, während sie ihn betrachtete. Wenn ihn nur irgendjemand, nur ganz kurz, lieben würde.

„It does not end“, flüsterte er überaus dramatisch. „It fades away.“

An diesem Abend mied sie die Küche. Sie schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an. Vor ihren Augen flimmerten Diktatoren, Präsidenten, Minister und Generäle hintereinander über den Bildschirm. Flüchtlingskolonnen, vom Unglück verfolgte, leidgeprüfte Menschen. Kriege, Konflikte, Naturkatastrophen, Morde, sexueller Missbrauch. Sie zappte weiter. Eine Zeitlang schaute sie eine uralte Sitcom. Nichts wirkte so beruhigend auf sie, nichts machte das Leben so schön wie schlechte Witze und Lachkonserven, dachte sie. Einfache, kleine Dinge, all diese einfachen, kleinen Dinge! Beinahe hätte sie sich verschluckt. Sie drehte den Fernseher lauter. Für einige Minuten lachte sie zusammen mit den Menschen aus der Konserve, dann überkam sie ein Schamgefühl, und sie schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett.

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Sie stand auf und ging in die Küche. Sie trank ein Glas Leitungswasser. Dann öffnete sie das Fenster. Vorsichtig schaute sie in den Blumentopf. Sie hatte es geahnt: Das Insekt war nicht mehr da. Sie hob den Blumentopf an. Es war weder darunter noch dahinter zu sehen. Sie beugte sich weit über das Fensterbrett und betrachtete die Fassade.

Eine kaum sichtbare Spur, eine schleimige Schlangenlinie, lief quer über die Außenwand und verschwand in der Dunkelheit.

Sie schloss das Fenster und ging ins Bett zurück.

Erst später würde sie die Angst überkommen.

Noch vor dem Morgengrauen.

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