Im Rahmen des 60. Jubiläums des Goethe-Instituts London veranstalteten wir in diesem Jahr drei Goethe Annual Lectures mit Autorin Mithu Sanyal, Professorin Mercedes Bunz und Musiker Matthew Herbert.
Wir haben uns gefreut, Matthew Herbert als einen der diesjährigen Redner*innen unserer Goethe Annual Lecture-Serie im Goethe-Institut London begrüßen zu dürfen. Anhand einer Reihe außergewöhnlicher Tonaufnahmen brachte Herbert uns dazu, weiter zu hören, als wir es für möglich hielten, und erklärte uns, wie systemisches Zuhören zu sinnvollem Handeln führen kann.
Seit etwa 140 Jahren ermöglichen Audioaufzeichnungen, dass wir uns selbst wieder-hören. Seitdem haben wir viel in Mikrofone gesprochen und gesungen und die Ergebnisse auf Wachszylindern, Schallplatten, Tonbändern und Festplatten festgehalten. Allein auf Spotify werden jeden Tag 65.000 Songs hochgeladen. Jenseits von Musik und der menschlichen Stimme entwickelt sich im Audiobereich jedoch ein neues einschneidendes Feld, das uns potenzielle neue Wege des Verstehens erschließt. Wir können das Wachstum von Krankheiten und die Wellen aus Schwarzen Löchern hören. Wir haben Aufnahmen von 23.000 Menschen, die eine einzige Note singen, und von 20.000 bellenden Hunden.
Zeitgleich mit der Entwicklung der Fähigkeit, Töne aufzunehmen, zu speichern und zu manipulieren, haben wir ein nahezu perfektes Wirtschaftssystem ins Leben gerufen, um das Falsche zur falschen Zeit zu tun. Von der Subventionierung fossiler Brennstoffe über die Priorisierung schädlicher Lebensmittel bis hin zur Verzerrung von Informationen um des Profits willen und der proaktiven Stimulierung eines übermäßigen Konsums – es ist bewusst darauf ausgelegt, kurzfristige Belohnungen gegenüber langfristiger Nachhaltigkeit zu begünstigen. Dieses System verlangt im Kern nach Ungerechtigkeit: ausgebeutete Arbeiter*innen, eine ausgebeutete Umwelt und ein Bekenntnis zu den patriarchalischen und weißen, rassistischen historischen Strukturen und den narrativen Rechtfertigungen, die es reibungslos am Laufen halten.
Was wäre, wenn wir die neue Reichweite von Tonaufnahmen nutzen könnten, um die Töne dieses Systems, seiner Funktionsweise und seiner Folgen zu hören? Und wenn wir diese Töne einmal gehört haben, können wir dann sogar noch weiter gehen als unsere Mikrofone – was Anne Balsamo „Hören mit Technologie“ nennt - , um das zuvor Unmögliche zu hören? Können wir alle Wasserpumpen auf Farmen in Iowa oder alle Supermarktkassen in Rio hören? Haben wir erst einmal solche Geräusche gehört, könnte es schwieriger werden, den Status quo als gesund oder harmonisch zu verteidigen.
Durch eine Reihe außergewöhnlicher Tonaufnahmen hat Dr. Matthew Herbert uns dazu gebracht, mehr zu hören, als wir es für möglich hielten, und schließlich gefragt, wie ein systemisches Zuhören zu sinnvollem Handeln führen kann.
Auf den Vortrag folgte ein Q&A mit der Künstlerin und Akademikerin Dr. Ella Finer.
Am 15. November zeigten wir außerdem den Dokumentarfilm A Symphony Of Noise, der einen Einblick in Matthew Herberts Gedankenwelt und Arbeitsprozess bietet.
Biografien
Matthew Herbert ist Musiker, Künstler, Produzent und Autor. Die Bandbreite seiner innovativen Werke reicht von zahlreichen Alben (darunter das gefeierte Bodily Functions) bis hin zu für den Ivor Novello-Preis nominierten Filmmusiken (Life in a Day) sowie Musik für Theater, Broadway, Fernsehen, Spiele und Radio. Er ist solo, als DJ sowie mit verschiedenen Musikern, einschließlich seiner eigenen 18-köpfigen Big Band, auf der ganzen Welt aufgetreten, vom Opernhaus in Sydney bis zum Hollywood Bowl. Darüber hinaus hat er diverse Installationen, Theaterstücke und Opern geschaffen.
Er hat ikonische Künstler wie Quincy Jones, Serge Gainsbourg und Ennio Morricone remixt und über mehrere Jahre eng mit unterschiedlichen Musiker*innen wie Björk und Dizzee Rascal zusammengearbeitet. Er wurde von J Dilla für Slum Village gesampelt und ein anderes seiner Stücke (Café de Flore) inspirierte einen Film von Jean-Marc Vallee (Dallas Buyers Club). Er hat andere Künstler*innen wie Roisin Murphy, The Invisible, Micachu und Merz produziert und einige dieser Werke neben anderen auf seinem eigenen Label Accidental Records veröffentlicht.
Er gründete auch NX Records mit der Goldsmiths University, um die Veröffentlichung von Musik von Alumni und anderen zu unterstützen. Bemerkenswerte Mitwirkende waren der Koch Heston Blumenthal, die Dramatiker*innen Caryl Churchill und Duncan Macmillan, der Theaterregisseur Lyndsey Turner, der Musiker Arto Lindsay und der Schriftsteller Will Self. Aber er ist vor allem dafür bekannt, mit Sound zu arbeiten und gewöhnlichen oder sogenannten „found Sound“ in elektronische Musik umzuwandeln. Sein berühmtestes Werk ONE PIG folgte dem Leben eines Schweins von der Geburt bis zum Teller und darüber hinaus.
Aktuell arbeitet er an dem Neustart eines Online-Museums of Sound und ist Creative Director des neuen Radiophonic Workshop für die BBC. Sein Debütstück The Hush wurde am National Theatre aufgeführt, seine Debütoper The Crackle am Royal Opera House, und er arbeitet an weiteren Projekten für die Leinwand und die Bühne. Sein Debüt als Autor mit dem Titel The Music wurde 2018 veröffentlicht.
Ella Finer arbeitet im Bereich Sound und Performance; sie schreibt, komponiert und kuratiert. Besonders interessiert sie, wie Frauenstimmen Raum einnehmen, wie Körper das Besetzen von Raum akustisch stören, testen oder verändern. In ihrer Forschung hinterfragt sie kontinuierlich die Besitzansprüche an den kulturellen Ausdruckformen im Bereich Klang; oft geschieht dies durch kollaborative Projekte, die das Zuhören als eine Praxis tiefer Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit und Gegenseitigkeit in den Mittelpunkt stellen.
Jüngste Arbeiten wurden bei Onassis Stegi (Athen), Gasworks (London), FUTURA (Prag) und Ocean Archive präsentiert, wo ihr langes Korrespondenzprojekt mit Vibeke Mascini, Silent Whale Letters, stattfand. Die Briefe werden Anfang 2023 in Buchform bei Sternberg erscheinen, herausgegeben von Kate Briggs. Zu den Ella Finers jüngsten Essay-Veröffentlichungen gehören Burning House / Burning Horse: The fire it always is (The Contemporary Journal), The sea in the forest (The Blackwood Gallery), Feminism and Sound (CUP) und Listening in Common in Uncommon Times (The Kenyon Review).
Derzeit stellt sie ihre erste Monografie Acoustic Commons and the Wild Life of Sound fertig, eine Arbeit, welche die inhärente Kraft in dem/ von dem in Betracht zieht, das außerhalb der administrativen Kontrolle liegt – den Klang als kritischen Agitator verstehend: wie Klang sich der Kategorisierung im Archiv widersetzt; wie Sound Wissen erzeugt und es über die Grenzen des institutionellen Gebäudes hinaus verbreitet.