Nationalfarben
Aus alter Scham wurde neue Liebe
![Schwarz-Rot-Gold so weit das Auge reicht: Fußballfans auf der Berliner Fanmeile bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Schwarz-Rot-Gold so weit das Auge reicht: Fußballfans auf der Berliner Fanmeile bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018.](/resources/files/jpg724/105741906-aufmacherbild-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Nachdem die deutsche Nationalfahne jahrzehntelang ein Schattendasein fristete, gehören schwarz-rot-goldene Insignien mittlerweile zur Standardausstattung bei Ereignissen wie der Fußball-WM. Aber auch die Angst vor einem neuen Nationalismus wächst wieder.
Juni 2018: Auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor sind zehntausende erwartungsfrohe Besucher zum ersten Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Russland zusammengekommen. Die Bundesfarben Schwarz, Rot und Gold dominieren das Areal. Ob Mützen, Schals, Schweißbänder oder Sitzkissen: Hauptsache, das Bekenntnis zur Nationalelf ist sichtbar. Manche Autofahrer streifen ihrem Außenspiegel gar einen Überzug in Landesfarbe über, und überall im Land werden Fahnen geschwenkt.
Revolte gegen das Geschichtsverständnis
Doch der Rückenwind aus einer den Bundesfarben wohlgesonnenen Medienberichterstattung 2006 beendete die Zurückhaltung. Die Fan-Massen trugen Schwarz-Rot-Gold. „Das wurde von vielen als Befreiung empfunden“, konstatiert Soziologin Schediwy. Vor allem die jüngeren Fans wollten gemeinsam feiern und Deutschland nicht mehr ständig mit der nationalsozialistisch-patriotischen geprägten Vergangenheit in Verbindung bringen. Die nationalen Farben nicht nur als Fahne, sondern auch gemalt im Gesicht oder auf anderen Fanartikeln zu tragen, symbolisierte für sie schlicht die in anderen Ländern so selbstverständlich gezeigte Solidarität mit der eigenen Fußballmannschaft.
Als Reaktion auf die fahnenschwenkenden Anhänger von AfD und Pegida beobachtet der Psychologe Stephan Grünewald bei einigen Fans eine Tendenz zur „Fahnenflucht“ – Schwarz-Rot-Gold bekomme wieder eine nationalistische Aufladung, von der man sich distanzieren möchte: „Wir lassen die Flagge lieber im Keller, um nicht die nationalistischen Gefühle zu schüren. Manche fürchten, ins Bedeutungsfahrwasser der AfD zu geraten.“Der Journalist Lin Hirse schreibt zum WM-Auftakt in der tageszeitung (taz): „Seit Pegida klebt die braune Mehrdeutigkeit wie ein Kaugummi noch penetranter an der Deutschlandfahne.“
Der Umgang mit den Nationalfarben
Die Debatte darum, was die Nationalfarben symbolisieren, ist in vollem Gange. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, warnte im Juni 2018 vor einem aufkommenden Nationalismus. Sie wolle zwar niemandem das Fähnchen verbieten. „Ich finde aber, dass es uns Deutschen gut zu Gesicht steht, wenn wir Zurückhaltung walten lassen mit der nationalen Selbstbeweihräucherung“, befand die Grünen-Politikerin. Sie verwies darauf, dass insbesondere die AfD die deutsche Fahne instrumentalisiere, um Ausgrenzung zu signalisieren. Zu einem ganz anderen Schluss kommt der Politologe Stefan Marschall. Wer weiterhin die Fahne schwenke, verhindere, dass sie „für andere Ideen vereinnahmt und instrumentalisiert“ werde.